Eigentlich hat Ivan gar keine Zeit. Er hat noch Termine in sieben weiteren Häusern im Quartier, um dort die Elektroinstallationen zu prüfen, und sein Chef mag es nicht, wenn er länger als nötig bei Kunden bleibt. Doch Frau Gustafsson beharrt darauf, ihm einen Kaffee zu machen, also setzt er sich auf den alten Polstersessel im Wohnzimmer, der viel bequemer aussieht als er ist. Während Frau Gustafsson in der Küche mit Tassen klappert, Schränke öffnet und schließt und Plastikverpackungen aufreißt, sieht er sich im Raum um. Auf einer alten Kommode mit Türen aus Rauchglas erblickt er einen Mann. Er ist in vielfacher Ausführung zu sehen, doch es ist zweifellos stets der gleiche Mann, in verschiedenen Phasen seines Lebens, mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken, unterschiedlichen Posen, unterschiedlicher Kleidung. Er wirkt freundlich, der Mann, der den kleinen Wald aus golden umrandeten Bilderrahmen bewohnt.
Ivan geht davon aus, dass es sich beim Mann auf den Fotos um Herrn Gustafsson handelt, und er vermutet, dass Herr Gustafsson nur noch in den Bilderrahmen auf der Kommode lebt. Er denkt an den Treppenlift vor dem Haus, der nicht mehr in Betrieb scheint, an die versperrte Katzenklappe neben der Haustür und an seine Vermutung beim Klingeln, dass niemand zu Hause ist. Selbst mit dem Klappern aus der Küche und dem Surren der Kaffeemaschine ist es still im Haus.
So, sagt Frau Gustafsson, als sie zurück ins Wohnzimmer kommt, eine Kaffeetasse samt Unterteller in einer Hand, eine kleine Schale mit Keksen in der anderen Hand. Sie stellt beides vor ihn hin, auf einen kleinen alten Holztisch mit weißem Tischtuch. Die Tasse ist aus dünnem Porzellan gefertigt und wirkt so alt und antik wie alles andere. Der gesamte Raum scheint aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen, nur der moderne Flachbildfernseher in der Ecke passt nicht, wirkt wie ein Fremdkörper.
Frau Gustafsson setzt sich in den Sessel neben Ivan, und er fragt sich, ob er nun an jenem Platz neben ihr sitzt, an welchem jeweils Herr Gustafsson zu sitzen pflegte. Als würde sie Ivans Gedanken erraten, beginnt sie von ihrem Mann zu erzählen. Sie redet darüber, wie sie viele Dinge im Haus nicht mehr benutze und viele Aufgaben nicht mehr erledigen könne, seit der Mann gestorben ist. Sie sagt der Mann, nicht mein Mann, sie nennt ihn auch nicht beim Namen, gerade so, als wäre mit seinem Atem auch ein Stück der gewohnten Vertrautheit versiegt.
Sie schildert das Leben im Quartier, die Reisen mit dem Mann, vor allem nach Schweden, wo die Verwandten des Mannes leben. Sie beschreibt die Probleme mit der Feuchtigkeit im Keller und wie der Mann ein Entfeuchtungsgerät gekauft habe, sie erzählt davon, wie der Mann stundenlang im Garten gearbeitet habe, während sie strickte oder kochte. Sie erinnert sich daran, wie das Nachbarhaus brannte und sie fürchtete, die Flammen würden auf ihr Haus übergreifen. Der Mann spritzte mit dem Gartenschlauch unser Haus und die Garage ab, damit sie nicht Feuer fangen, sagt sie mit einem sanften Lächeln, das jedoch nicht verhehlen kann, dass die Angst von damals noch in ihren Knochen steckt.
Während sie redet, betrachtet er sie vorsichtig. Ihr Kopf hat eine merkwürdige Form, läuft zur Nase und zum Mund hin spitz zu, während das Kinn leicht nach hinten verschoben ist, was ihn an eine Maus denken lässt. Die Kopfhaut schimmert leicht gerötet durch das schüttere Haar, und wenn sie zwischen den Sätzen eine Pause einlegt, zucken ihre Lippen. Die Augen sind stets ein wenig feucht, die Haut darunter wirft Falten.
Irgendwann verstummt Frau Gustafsson und starrt auf die Kommode, blinzelt bisweilen, die Lippen zucken. Ivan wartet eine schweigsame Minute ab, dann räuspert er sich vorsichtig und sagt leise, dass er nun leider gehen müsse, er habe noch Termine in sieben weiteren Häusern im Quartier. Frau Gustafsson zuckt leicht zusammen und blickt ihn an, als würde seine Anwesenheit sie überraschen. Sie legt den Kopf ein wenig schräg, lässt ein Lächeln über die Lippen huschen. Mit einer ungelenken Handbewegung deutet sie auf die Schale auf dem Tisch und fordert Ivan auf, noch einen Keks zu nehmen. Er greift zu und steht gleichzeitig auf, schiebt sich den Keks in den Mund und verneigt sich unbeholfen. Während er an der Kommode vorübergeht, nickt er dem Mann in den Bilderrahmen zu.
Nachdem sie ihn zur Tür begleitet hat, bedankt sich Ivan für den Kaffee und die Kekse. Frau Gustafsson bedankt sich für seinen Besuch und seine Zeit. Dann verabschieden sie sich. Und obwohl Ivan noch Termine in sieben weiteren Häusern im Quartier hat und schon viel zu spät dran ist, verspürt er keine Eile, als er die Treppe vor dem Haus nach unten steigt und seine Hand über die Führungsschiene des Treppenliftes gleiten lässt.

Eine nachdenklich machende Geschichte.
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Danke für das Kompliment und fürs Lesen!
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Ich danke dir für den schönen Text.
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