Beinahe übersieht sie ihn, den Umschlag. Er steckt zwischen einer Kartonverpackung und einer Zeitschrift, und erst, als er zu Boden fällt, fällt er auf. Sie hebt ihn hoch, dreht ihn zwischen ihren Fingern. Dann trägt sie ihn zusammen mit der restlichen Post in ihre Wohnung.
In der Kartonverpackung ist ein Buch, das sie bestellt hat; A Manual For Cleaning Women von Lucia Berlin. Sie blättert darin, greift sich einzelne Wörter heraus und lässt sie in ihrem Kopf frei. Albuquerque. Mourning, Affair. Dann nimmt sie die Zeitschrift zur Hand, schlägt lustlos Seiten auf. Es ist eine Gratiszeitschrift zu Gesundheitsthemen, doch eigentlich nichts anderes als ein Werbeprospekt für Apothekenprodukte. Sie liest einen Beitrag über ein natürliches Heilmittel gegen Regelschmerzen, bricht aber vor dem Ende des Textes ab und wirft die Zeitschrift wieder auf den Tisch. Als sie schließlich den Umschlag in die Hände nimmt, versucht sie zunächst, die Handschrift zuzuordnen. Die Buchstaben sind sorgsam gezeichnet, äußerst hübsch, nur das kleine g wirkt seltsam schludrig, es passt nicht zum Rest und wirkt wie ein Fremdkörper. Sie erkennt die Schrift nicht, vermutet eher eine Frau als einen Mann, ist sich aber nicht sicher. Die Adresse ist falsch, der Straßenname weist grobe Fehler auf, zudem stimmt die Hausnummer nicht. Trotzdem hat der Umschlag sie erreicht, und sie überlegt, ob sich der Postbote geärgert hat, als er bemerkt hat, dass die Adresse falsch ist, oder ob er lediglich mit seinen Schultern gezuckt hat, weil er solchen Fehlern jeden Tag begegnet.
Sie öffnet den Umschlag ungewohnt vorsichtig und zieht dann eine Karte hervor. Abgebildet ist ein Werk von Edward Hopper, eine Frau, die vor einem geöffneten Fenster auf einem Bett sitzt, die Sonne zeichnet Formen in den Raum. Die Frau hat die Beine angewinkelt und die Arme um die Knie gelegt. Da liegt eine Traurigkeit im Bild, eine Melancholie, wie in den meisten Werken von Edward Hopper. Sie dreht die Karte um und betrachtet die Schrift. Wieder das g, das nicht passt. Dann liest sie die geschriebenen Worte.
Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, gehst mir nicht mehr aus dem Herzen. Ich bin außer mir, weil du in mir bist.
Da steht kein Name auf der Karte, nur der Buchstabe M. Sie überlegt, wer M sein könnte. Sie kennt zwar einige Menschen, deren Namen mit M beginnen, doch keiner von ihnen kommt in Frage, keiner von ihnen würde ihr solche Dinge schreiben, davon ist sie überzeugt.
Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, gehst mir nicht mehr aus dem Herzen. Ich bin außer mir, weil du in mir bist.
Wer könnte das sein? Sie überlegt, sortiert Gesichter, ordnet Begegnungen und Erlebnisse, Erinnerungen. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie niemanden kennt, dem sie ihrerseits solche Worte schreiben würde, nicht im Moment. Da ist niemand, der ihr nicht mehr aus dem Kopf oder aus dem Herzen geht. Irgendwie fühlt sie sich traurig, weil sie den Eindruck bekommt, dass eine Stelle in ihr taub ist. Irgendwie fühlt sie sich schuldig, ohne den Grund dafür zu kennen. Irgendwie fühlt sie sich leer, ohne benennen zu können, was wirklich fehlt.
Sie denkt an Julio, an die Nacht mit ihm, damals vor Monaten, und sie ist sich sicher, dass er nichts Derartiges schreiben würde, es gar nicht könnte, viel zu ungestüm ist er, viel zu hastig im Umgang mit seinen Gefühlen. Sie denkt an Eva, an die Innigkeit bei ihren Begegnungen, an das ungewohnte Beben in ihrem Brustkorb, als sie sich einst küssten. Sie denkt an David, an die vielen unausgesprochenen Wörter und Halbsätze; er wäre vielleicht jener, der am ehesten in Frage käme. Doch da ist kein M in seinem Namen, und auch die Handschrift ist vollkommen anders.
Sie kommt zum Schluss, dass der Absender oder die Absenderin nicht sie im Kopf und im Herzen hat, sondern eine andere Frau, die vielleicht gleich heißt wie sie. Darum die falsche Adresse, darum die unbekannte Schrift. Diese Erklärung, sie ergibt Sinn, sie ist nachvollziehbar. Dennoch wehrt sie sich dagegen, daran zu glauben.
Schließlich hängt sie die Karte an die Wand, mit dem Bild von Edward Hopper gegen vorne. Die Worte von M werden unsichtbar, aber sie hallen nach, bleiben als stilles Echo im Raum. Irgendwann jedoch beginnen die Buchstaben auch in ihrem Kopf allmählich zu verblassen, das große M und das kleine g ganz zuletzt. Bisweilen bleibt sie vor der Postkarte stehen, betrachtet die Frau, die ihrerseits aus dem Fenster schaut, mit Sehnsucht und einer seltsamen Zärtlichkeit im Blick. Sie fragt sich, was die Frau sieht. Was sie denkt. Was sie fühlt.
Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, gehst mir nicht mehr aus dem Herzen. Ich bin außer mir, weil du in mir bist.

Wunderschön, dieser Text von Dir, lieber Disputnik, und ein bissel wehmütig läßt er zurück
Liebe Grüße von Bruni
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, sie freuen mich sehr, trotz (oder auch wegen) der Wehmut…
Herzliche Grüsse zurück
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*lächel*, die hast Du doch mit Absicht hineingewebt
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(ertappt)
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Ich wäre zu neugierig zu wissen von wem diese Karte ist.
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Manches Geheimnis lässt sich eben nicht lüften… Herzliche Dank dir fürs Lesen…
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Ich glaube, ich wäre sehr traurig, wenn ich so eine schöne Karte mit diesen innigen Worten bekäme, und dann nicht wüsste, von wem – und auch keine weitere Reaktion.
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Wärst du weniger traurig, wenn du keine Karte bekommen würdest?
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen!
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Ich glaube ja – das ist ja der normale „Alltag“, in dem ich NICHT solche schönen Karten bekomme.
Aber dann bekomme ich eine und kann das Glück nicht leben.
Das Leben hat nicht immer ein happy-end!
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Verpasste Gelegenheiten und ungenutzte Möglichkeiten tun wohl weniger weh, wenn man gar nichts von ihnen weiss…
Aber ist eh besser, wenn das Leben vor dem End happy ist… 😉
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wunderbar … einfühlsam geschrieben, gefällt mir sehr!
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Oh, das freut mich sehr, vielen lieben Dank dir!
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