Nachdem es geschehen war, ein weiteres Mal, so heftig und brutal wie nie zuvor, begann Eva damit, alle Fensterläden zu schließen. Wo es keine Läden hatte, hängte sie dicke Tücher vor die Fenster. Wohin sie auch ging und mit wem sie auch sprach, sie ließ niemanden ins Haus blicken, hielt das Innere sorgsam unter Verschluss. Selbst Freunden, vermeintlichen und echten, verwehrte sie den Zutritt. Wenn sie unterwegs war, bemühte sie sich, keine Aufmerksamkeit auf sich und ihr Haus zu ziehen. Eva pflegte die Fassade mit großem Fleiß, achtete auf saubere Wände und Freiflächen, und wenn Farbe abblätterte, ein Fensterladen schräg in den Angeln hing oder eine Holzlatte vorstand, beeilte sie sich, den offensichtlichen Mangel zu reparieren. Normalität war ein Wert, den es zu bewahren galt.
Wenn Eva zu Hause war, machte sie so wenig Licht wie möglich. Die Lampen blieben weitgehend dunkel und stumm, die Leuchtkörper kalt. Meistens zündete sie Kerzen an, Duftkerzen. Sie war froh, dass es stets nach Vanille und Sandelholz oder Brombeeren oder Kirschblüten roch. Und nicht nach ihr selbst.
Jahrelang lebte sie so, jahrelang funktionierte ihr Dasein mit den geschlossenen Fensterläden, den Duftkerzen und dem vorsichtigen Herumschleichen in den finsteren Räumen. Und wahrscheinlich hätte es noch jahrelang funktionieren können, wahrscheinlich hätte sie noch jahrelang funktionieren können.
Doch dann begann eine Frau in ihrem Umfeld, von Dingen zu erzählen, die ihr widerfahren waren. Eva kannte diese Frau nicht wirklich, doch die Erlebnisse, die sie schilderte, skizzenhaft und vage, voller Bitterkeit und Ekel, diese Erlebnisse waren ihr nur allzu bekannt. Es war nicht Evas Geschichte, die da erzählt wurde, nicht ganz. Aber das Narrativ stimmte überein, die Mechanismen und Wirkungen, die Gedanken und Gefühle waren vertraut. Sie hörte zu, auch dann, wenn jene Frau gar nicht redete. Eva lauschte den Leerstellen und ertappte sich bisweilen dabei, wie sie nickte.
Als sie an jenem Abend nach Hause kam, schaltete Eva zum ersten Mal seit langer Zeit das Licht im Flur an. Sie ging von Raum zu Raum, knipste Lampen an und drückte auf Lichtschalter, bis alles hell war. Während sie sich mit irritiert blinzelnden Augen umsah, spürte sie, wie sich in ihrem Körper die Muskeln, Bänder und Sehnen verschoben. Sie starrte auf die scharfen Kanten der Möbel, auf den Schmutz in den Ecken, auf den Staub in den Nischen. Nur ganz langsam erkannte Eva die Umgebung, nur zaghaft realisierte sie, wie es im Innern ihres Hauses aussah, und dieses Erkennen und Realisieren ließ sie weinen, wie sie wohl noch nie geweint hatte.
Später, viel später, hängte Eva das erste Tuch ab, ließ die Finger über die kalte Fensterscheibe gleiten. Sie öffnete einige Fensterläden; nicht alle, nur zwei oder drei. Dann stellte sie sich an eines der Fenster und blickte nach draußen. Ein Baum neigte sich im Wind leicht zur Seite, ein Ast schien ihr zuzuwinken. Eva winkte zurück und lächelte kurz. Dann senkte sie den Blick.

Guter Text.
It represents me too 😉
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Dann hoff ich, die Fensterläden sind wieder geöffnet… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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und sie erkannte sich selbst…
Es war wie ein allererster zaghafter Schritt ins Licht
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(Der erste ist oftmals der schwerste und wichtigste…) Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Wandlung zum positiven Licht hin… schön geschrieben…
Herzliche Herbstgrüße vom Finbar
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar!
Herzliche Oktobergrüsse zurück…
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🍁🍂🍃🍂🍁
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Wunderschön.
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Danke schön!
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Am Anfang dachte ich sie sei ein Messi.
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Nee, kein Messi…
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Habe ich zum Schluss auch gemerkt. Ich rätsel aber noch.
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Gut gut, dann lass ich dich rätseln…
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Fassade. Aufrecht. Erhalten. Sehr schön.
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Vielen. Lieben. Dank! Dir.
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