Sie lebt in einem Haus mit einem Ziegeldach, und obschon sie schon lange dort wohnt, weiß sie noch immer nicht, wie die Ziegel auf dem Dach befestigt sind und wie es unter ihnen aussieht. Sie wundert sich, sie fragt sich, und eines Tages, mit Entschlossenheit unter den Rippen, beschließt sie, dem Wundern und Fragen ein Ende zu setzen, und steigt aufs Dach. Sie rüttelt und zerrt an einem Dachziegel, bis er sich löst, ihr aus den Händen gleitet und vom Dach fällt. Und jetzt weiß sie, wie die Dachziegel befestigt sind und wie es unter ihnen aussieht, doch dieses Wissen ist ihr plötzlich egal, vielleicht auch deshalb, weil es nun ins Haus regnet.
Sie sieht sich die Show eines Zauberers an und findet ihn und sein aufgesetztes Grinsen zwar ein wenig eklig, ist aber fasziniert von den Tricks und Illusionen. Ihr Staunen lässt den Unterkiefer herunterklappen, ihre Verblüffung reißt die Augen weit auf. Sie geht ein zweites Mal in die Vorführung des Zauberers, ein drittes Mal, ein viertes Mal, und ist immer wieder begeistert. Doch sie möchte zu gerne wissen, wie die Tricks des Zauberers eigentlich funktionieren. Also kauft sie das Buch der tausend Zaubertricks und findet es heraus. Danach sieht sie sich nie mehr eine Show eines Zauberers an.
Von ihrem Freund bekommt sie ein Geschenk zu Weihnachten. Schon Wochen vorher hat er es gekauft, und sie findet schnell heraus, wo er es versteckt hat. Als er nicht zu Hause ist, packt sie es vorsichtig aus, löst das Klebeband behutsam vom Geschenkpapier. Dann hält sie einen Seidenmantel in den Händen, edel und elegant und anschmiegsam, und in jenem Moment liebt sie ihren Freund noch ein bisschen mehr. Doch als sie den Seidenmantel an Weihnachten dann tatsächlich geschenkt bekommt, fühlt er sich gar nicht mehr so edel und anschmiegsam an.
Von ihrem Fenster aus sieht sie in einen Garten, und in einem Gebüsch dieses Gartens schälen sich die Umrisse einer Form aus dem Hintergrund, sie sieht aus wie ein Mensch mit ausgebreiteten Armen, wunderschön und geheimnisvoll, als habe er gute Gründe, die ganze Welt zu umarmen. Sie mag dieses Bild, diesen Menschen im Gebüsch, mit seinen ausgebreiteten Armen, doch irgendwann will sie wissen, was diese Form ist, und sie schleicht sich in den Garten. Vorsichtig geht sie zu jener Stelle, an welcher der Mensch mit den ausgestreckten Armen stehen sollte, doch da ist nur ein kleiner Baum, alt und knorrig. Als sie wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt ist und aus dem Fenster schaut, ist der Mensch mit den ausgestreckten Armen verschwunden. Da steht nur noch ein knorriger alter Baum im Garten.

Sie verdirbt sich jede Überraschung, jedes Wunder wird akribisch untersucht. und seines Zaubers beraubt.
Ein Mensch, die sich jeder Freude beraubt …
Du hast gute Beispiele gefunden und für uns aufgeschrieben
Liebe Grüße von Bruni
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Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni. Hoffentlich kannst du dir das Wundern und Überraschenlassen weiterhin bewahren… Herzliche Grüsse
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*lächel*, ich kann gar nicht anders
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Manchmal ist es vielleicht besser, schöner, magischer…
nicht HINTER die Dinge des Lebens schauen zu wollen, zu können, zu müssen…
Herzliche Grüße
Finbar
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Ich denke auch. Nicht jedes Geheimnis gehört zwingend gelüftet.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück…
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Manche Zauber sollte man sich bewahren und nicht hinterfragen. Sonst kann man irgendwann nicht mehr staunend durch die Welt wandeln.
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Oh ja, das Staunen ist eines der Dinge, die nicht selten schmerzhaft abhanden kommen…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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