Angefangen hat wohl alles mit den Armbanduhren. Es besaß bereits eine hübsche und gut funktionierende Armbanduhr, als sein Onkel, den er fast nie sah, ihm zu seinem neunten oder zehnten Geburtstag eine weitere hübsche und gut funktionierende Armbanduhr schenkte. Fortan verfügte er also über zwei Armbanduhren. Zwar hatte er dadurch nicht doppelt so viel Zeit, und nach einer kurzen Phase, in welcher er beide Armbanduhren gleichzeitig trug, verzichtete er darauf, weil es ziemlich dämlich aussah. Doch alsbald fand er Gefallen am Gedanken, dass er jeweils eine Armbanduhr tragen konnte, während ihm die andere Armbanduhr als Reserve diente. So konnte es ihm nicht passieren, dass er, falls eine Armbanduhr ihren Dienst versagte, plötzlich ohne Armbanduhr da stand und keine Antwort gewusst hätte, wenn er nach der Zeit gefragt worden wäre. Er mochte diese Sicherheit, mochte sie sehr, sie ließ ihn freier atmen.
Tatsächlich blieb eine der Armbanduhren irgendwann einfach stehen, konnte auch mit neuen Batterien nicht wieder in Gang gebracht werden, und er war sehr froh, dass er auf seine Reserve-Armbanduhr zurückgreifen konnte. Er war darüber so glücklich, dass er sogar seinen Onkel anrufen wollte, um sich nochmals für die Armbanduhr zu bedanken, doch der Onkel war bereits tot.
Er besorgte sich eine neue zweite Armbanduhr, um die alte Sicherheit wieder herzustellen, und irgendwann begann er, dieses anhand der Armbanduhren erprobte Konzept auf weitere Elemente seines Lebens auszudehnen. Er kaufte sich ein zweites Fahrrad, ein zweites Paar Torwarthandschuhe, ein zweites Taschenmesser. Als Kind und als Jugendlicher waren ihm – aus finanziellen, organisatorischen und logistischen Gründen – noch deutliche Grenzen gesetzt, was die Anwendung dieses Konzepts betraf, doch im weiteren Verlauf seines Lebens lösten sich diese Grenzen immer mehr auf.
Als er seine Ausbildung abgeschlossen hatte, absolvierte er direkt eine zweite. Er sparte sein Geld, bis er sich nicht einen, sondern zwei gebrauchte Toyotas kaufen konnte. Er trug stets zwei Brieftaschen bei sich, und wenn es irgendwie machbar war, hatte er ein zweites T-Shirt dabei; man wusste ja nie. Eine Zeit lang führte er eine Art Doppelleben mit zwei Freundinnen, doch auf Dauer schien ihm dies zu anstrengend, außerdem hatte er auch gewisse moralische Bedenken. Er heiratete eine Frau, sie bekamen zweimal Zwillinge, hatten zwei Golden Retriever und zwei Katzen, und irgendwann bauten sie sich ein Haus und dann noch ein zweites. Beide Häuser verfügten jeweils über zwei Eingänge und zwei Balkone, zwei Doppelgaragen und zwei Gärten. Er konnte die beiden Häuser nur finanzieren, weil er zwei Jobs und zwei Nebenjobs hatte. Doch er brauchte diese Sicherheit, brauchte sie sehr, sie ließ ihn freier atmen.
Und dann, eines Tages, hörte sein Herz auf zu schlagen, einfach so, und in den letzten Sekunden seines Lebens bedauerte er es zutiefst, dass er kein zweites Herz hatte. Nach der Kremation fand er seine letzte Ruhe natürlich auf zwei verschiedenen Friedhöfen, wie er es sich gewünscht hatte. Seine Frau kam ihn jedoch nie besuchen. Womöglich konnte sie sich nicht für eine der beiden Grabstätten entscheiden.

WAS für ein Doppelleben *lächel*
(Aber an ein zweites Herz habe ich auch schon immer mal wieder gedacht *lacht*)
Herzlich, Finbar
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(Ein zweites Herz wäre bisweilen auch praktisch; schon allein dann, wenn man eins verschenken möchte…)
Ein herzliches Dankeschön und liebe Grüsse
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(Dann würde man es sich wohl noch besser überlegen, als so schon…)
Liebe Herbstgrüße vom Finbar 🍁🍂🍃🍂🍁
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und keine zweite Frau?
Die dopppelte Grabstätte ist die Härte. Ließ er sich teilen oder hatte er auch einen Zwilling, der zur gleichen Zeit starb?
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Einen Zwilling hatte er wahrscheinlich nicht, aber er ließ wohl nach der Kremation die Asche in zwei Urnen füllen. Falls er einen Zwilling hatte, bleibt zu hoffen, dass dieser mehr aus seinem Dasein gemacht hat… Herzlichen Dank dir fürs Lesen, liebe Bruni, und beste Grüsse ins Wochenende…
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*schmunzel*, du schreibst verrückte geschickten,lieber disputnik,und alle haben viel Wahrheit in sich
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Das ist ein sehr schönes Kompliment, liebe Bruni. (Und obwohl ich nicht allzu gut mit Komplimenten umgehen kann, nehme ich es sehr gerne dankend an.)
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*lach*, da bin ich jetzt aber froh
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Nicht umsonst sagt man: Doppelt gemoppelt hält besser. Ob die 2. Frau an seinen Grab gegangen wäre?
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Vielleicht, wer weiss… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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