Man kennt sich seit Jahren, da ist jene Vertrautheit, die vieles selbstverständlich macht. Mara heißt eigentlich Maria, aber außer ihrer Mutter nennt sie niemand bei diesem Namen; alle haben akzeptiert, dass sie sich als Mara begreift, vor allem Felix, ihr langjähriger Freund und Vertrauter. Felix hat eine große krumme Nase, ist davon abgesehen aber ein attraktiver Mann, somit durchaus passend zu Mara, die ihrerseits jene natürliche Schönheit ausstrahlt, der die Kosmetikbranche nichts mehr hinzuzufügen vermag. Dass Mara und Felix mit Tina und David befreundet sind, ist auf den ersten Blick kaum verwunderlich; auch Tina ist äußerst hübsch, auch David sieht sehr gut aus, und er hat zudem eine Nase, die jener von Felix in Größe und Krümmung mindestens ebenbürtig ist. Wer sie zu viert sieht, in einem Restaurant oder in einem Garten, darf sich entscheiden, ob er eine Spur des Neides zulassen mag, ob er am Reiz der harmonischen Viersamkeit zweifelt oder ob er sich einfach für diese Menschen freut. Mara und Felix und Tina und David teilen sich viele Interessen und Vorlieben, sie mögen die gleichen kulturellen Ausprägungen, wählen die gleiche Partei. Und eben, da ist jene Vertrautheit, die vieles selbstverständlich macht.
Eines Abends, man sitzt am Tisch und trinkt Wein, die Teller sind leer, spricht man über die Dinge des Lebens, über große Ziele und kleine Hürden, über Sex und Liebe, und irgendwann, durchaus im Zusammenhang, aber auch etwas übermütig und angetrunken, sagt Mara, dass sie sich unter gewissen Umständen vorstellen könnte, mit einem Mann zu schlafen und dafür Geld zu nehmen. Felix grinst lediglich, Tina nickt zustimmend, doch David sagt, Ja, das glaube ich gern, dass du dir das vorstellen kannst. Mara blickt ihn irritiert an. Tina blickt ihn irritiert an. Felix blickt auf die Tischplatte und schüttelt den Kopf. Was? ruft David aus. Was ist los? Ich sag ja nur… Ich habe das doch nicht so gemeint… Ach! David nimmt einen Schluck Wein, sieht sich um, nimmt noch einen Schluck. Kommt schon, war nur Spaß! Dann redet man weiter, über Belanglosigkeiten, vollkommen unverfänglich. Und eigentlich ist die irritierende Situation damit vorüber, ist Vergangenheit, die allmählich von den Dingen der Zeit überwuchert werden wird.
Einige Wochen später treffen Mara und Felix bei einem Stadtfest zufälligerweise auf Tina und David. Sie unterhalten sich, lachen munter, ihr Beisammensein wirkt wohl nicht anders als sonst, doch schon bald gehen sie wieder auseinander, ohne dass sich die gewohnte Viersamkeit entfalten kann. Als Mara und Felix wieder alleine sind und Tina und David wieder alleine sind, spricht vielleicht jemand darüber, dass sich die Begegnung merkwürdig anfühlte, vielleicht aber auch nicht.
Bis zur nächsten Begegnung vergehen erneut Wochen, und wieder ist es der Zufall, der das Zusammentreffen überhaupt ermöglicht. Die Umarmungen, die ein Aufeinandertreffen zuvor jeweils einleiteten, bleiben dieses Mal aus. Man grüßt sich höflich, wechselt einige Worte, kommt aber nicht wirklich ins Gespräch. Danach dauert es fast ein Jahr, bis sie sich wiedersehen. Und schließlich verlieren sie sich aus den Augen.
Als sich Mara und Tina sehr viel später im Einkaufszentrum begegnen, bleiben beide seltsam verunsichert stehen. Hallo, Maria, sagt Tina und nickt ihr zwar freundlich, aber distanziert zu. Mara weiß nicht, ob Tina das i besonders betont hat oder nicht. Sie möchte etwas entgegnen, möchte etwas in Worte fassen, an das sich beide Frauen halten könnten, doch sie räuspert sich lediglich. Hallo, sagt Mara mit nüchterner Stimme. Dann geht sie weiter.

Da reicht manchmal nur ein dahin gesagter Satz und schwupps gibt es ein gestern und ein heute. Wer es dann nicht schafft ein ehrliches Gespräch zu führen, geht unweigerlich getrennte Wege.
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Ja, Worte und Sätze haben bisweilen mehr Macht, als uns lieb ist… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Bitte, Bitte.
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Das Zwischenmenschliche kann ungeheuer schwer sein …
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Oh ja, aber ohne das Zwischenmenschliche ist’s noch viel schwerer… Herzliche Grüsse…
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*lach*, ja, das stimmt, lieber Ralf
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Es ist tatsächlich so,eine ungeklärte Situation kann Freunde ohne weitere Worte auseinandertreiben
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Es klingt seltsam,aber genau so könnte es gewesen sein, bei den Vieren in deiner geschichte und auch bei anderen, bei denen sich irgendwann mal eine zwischenmenschliche Unklarheit eingenistet hat, die nie geklärt wurde …
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Oh ja, liebe Bruni, manche Worte tragen wohl Widerhaken in sich, die sich ins Fleisch oder ins Herz graben und höchstens unter Schmerzen wieder befreit werden können… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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