Das Wasser umspielt einen großen kantigen Stein am Ufer, wechselt rasch die Richtung und verleiht der Wasseroberfläche eine ungewöhnliche Form, eine neue Struktur. Sie steht einige Meter davon entfernt und blickt auf das fließende Gewässer, das längst kein Bach mehr ist, aber auch noch nicht als Fluss bezeichnet werden könnte. Sie ist immer wieder erstaunt, wie viel Wasser durch Bäche und Flüsse fließt und wie wenig sie davon tatsächlich zu Gesicht bekommt. Sie sieht stets nur einen Bruchteil und vermag die wahrhaftigen Dimensionen kaum einzuschätzen. Sie weiß, wo der Bach seinen Anfang nahm, doch sie hat kein Bild davon in ihrem Kopf. Sie weiß, wo der Fluss seine Wassermassen ins weite Meer entlässt, doch sie war noch nie dort.
Sie denkt an jene Stelle am Bach, an welcher ein alter Baum über das Wasser ragt. Dort war sie hineingesprungen, obwohl es längst nicht tief genug war. Sie denkt an die Hütte an der Bachkrümmung; einst fand dort ein Fest statt, und sie war so betrunken, dass sie sich zweimal hatte übergeben müssen, hinein ins nächtliche Wasser. Sie denkt an die Stelle am Ufer, an der sie zum ersten Mal Sex mit einem Mann hatte, dann an jene Stelle, an der sie zum ersten Mal Sex mit einer Frau hatte, und dann überlegt sie, welcher der beiden Momente ihr wichtiger war und ist. Sie denkt an das Plätschern des Baches an jenem Tag, an dem ihre Freundin starb. Sie denkt daran, wie das Wasser scheinbar langsamer fließt, je breiter ein Fluss wird. Sie fragt sich, ob er möglicherweise vollkommen zum Stillstand kommen könnte, bevor er das Meer erreicht.
Irgendwann sieht sie sich aufmerksam um, atmet ein, atmet aus. Dann zieht sie sich aus, legt ihre Kleider auf einen Stein am Ufer und geht vorsichtig ins Wasser, nackt und ein wenig zitternd. Es ist kalt, das Wasser, eisig kalt, doch sie lässt sich nicht beirren. Etwa in der Mitte kniet sie sich hin, dann setzt sie sich auf den steinigen Grund. Das Wasser reicht ihr bis zu den Schultern. Sie lässt ihren Blick wandern, lässt ihn über die kleinen Wellen stolpern und immer wieder hinauf zu den Baumspitzen klettern.
Schließlich, als ihr Körper sich längst an das Frieren gewöhnt hat, steht sie auf, watet zum Ufer, steigt aus dem Wasser und lässt ihre Haut im Wind trocknen. Sie reibt die Hände über die Oberarme, zieht sie sich wieder an und bleibt noch einige Momente an jener Stelle stehen. Das Verharren, es klappt nur vorübergehend. Sie wirft einen letzten Blick auf den kantigen Stein am Ufer und geht dann weiter, immer weiter, hin zum Fluss, hin zum Meer.

Hallo. Also wenn ich ehrlich bin, finde ich die Version beim Emil für mich einleuchtender. Es würde eher ein Mann ins kalte Wasser steigen als wir ewig frierenden Frauen. Und es sind eher die Männer die über den Durst trinken und sich dann irgendwo übergeben. Aber es könnte auch sein das es für mich ein Mann ist weil ich eine Frau bin oder weil ich es zuerst beim Emil gelesen habe. Trotzdem ist es eine gute kleine Story, wo ich direkt alles vor Augen hatte.
LG, Nati
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Also ich selbst als männliches Wesen bin deutlich kälteempfindlicher als die meisten Männer und Frauen 😉
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und Vor-Augen-Haben und für deine Worte…
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Das ist ja mal eine Seltenheit. Ich schau mich nachher mal ein bisschen bei dir um.
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Das freut mich sehr! Danke schön!
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Ja erst mal schauen….😀
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Das Spiel mit dem Geschlechterwechsel zu vergleichen ist sehr interessant. Gedanklich habe ich bei beiden Varianten keine Mühe, mich in den jeweiligen Protagonisten einzufühlen, denn gerade wegen der bisexuellen Erlebnisse entsteht eine Verbindung von beiden Möglichkeiten. Mag sein, dass die Körperempfindungen im Einzelnen nicht vergleichbar sind, aber meine Vorstellung vom kalten Wasser ist den gedanklichen Vorgängen eher untergeordnet und nicht so notwendig, weil ja die Anziehung des Meeres stärker ist als alles andere. Danke euch beiden.
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Und ich danke dir, fürs Lesen und für deine feinen Worte. Herzliche Grüsse…
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Es ist ein seltsames Phänomen, das ich gerade an mir beobachtete: Obwohl der Text mit einem männlichen Protagonisten auch erzählbar ist, gefällt er mir damit viel weniger gut.
Ist es, weil ich ein Mann bin? Oder weil ich männlichen Wesen weniger „Romantik“ zubillige?
Warum ist das bei mir so, und ist es auch bei anderen so?
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Eine gute Frage, ich stelle mir sie selbst auch oft… Eine verbindliche Antwort finde ich nicht, wie so oft. Und: Liegt es an den subjektigen Unterscheidungen zwischen Mann und Frau, oder liegt es an den (vermuteten) objektiven Unterscheidungen? Das Phänomen, es ist seltsam, aber auch spannende, interessant…
Herzlichen Dank dir!
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Darf ich … Darf ich den Text auf männlich umschreiben und heute Abend in meinen Blog setzten (keinerlei andere Veränderung)?
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Du darfst gern, mit einem kleinen Hinweis auf meinen Text… Bin gespannt, wie’s rauskommt…
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Verlinken ist doch selbsverständlich.
Vielen Dank!
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Emil, ich bin gespannt. Mit einem Mann gefällt mir der Text fast noch besser, boah Disputnik, nichts gegen Deine tollen Frauen…. Aber ich finde halt eben Männer (auch) total romantisch (weil ich eine Frau bin?🤔) Die Idee ist jedenfalls spannend und die Geschichte wie auch immer voll im Fluss…✨
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Freut mich sehr, dass dir die Geschichte gefällt, ob mit Mann oder mit Frau im Fluss… So oder so herzlichsten Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Deine Flussnixe mag ich! Sie ist sehr gesundheitsbewusst und die Wissenschaftler empfehlen tägliche Wechselbäder für ein starkes Herz-Kreislaufsystem. Allerdings hinterher viel bewegen, doch das tut sie ja, denn sie hat rechtzeitig bevor sie aus- bzw unterkühlte erkannt, dass Wasser in Bewegung sein muss um fließen zu können wie ihre Lebensenergie, die inneren Ströme hin zum Meer, zur Mitte zum Herzen.
Liebe Grüße sagt die Fee✨
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Oh ja, das Wasser muss in Bewegung sein, wie auch die Zeit, Stillstand ist eben manchmal tatsächlich der Tod…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken, und liebe Grüsse zurück!
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