Bisweilen hat ein Türrahmen die Form einer menschlichen Silhouette, doch ihr Körper, er fügt sich nie in diese Form, er ist zu groß oder zu klein, zu breit oder zu unförmig, und natürlich geht sie dennoch hindurch, weil sie muss, aber immer mit dem Wissen, dass sie nicht passt.
Sie sitzt auf einer kleinen Mauer in der Stadt und betrachtet die Leute, die Passanten, Existenzen en passant, und sie fragt sich, ob sie mit irgendjemandem tauschen könnte, ob sie in eines dieser Leben schlüpfen und sich darin heimisch fühlen könnte, und schließlich blickt sie zu Boden, beobachtet eine Ameise, die einen Brotkrümel schleppt.
Einmal geht sie zu einer Gartenparty, kennt eine Handvoll Menschen, trinkt Sekt und Rotwein, raucht zu viel, und jemand macht Fotos von den Gästen, immer wieder, und einige Tage später kann man sich diese Fotos im Internet anschauen, und sie betrachtet jedes einzelne Bild, sieht das Gelächter und die trunkenen Blicke, sieht Menschen, die ihr während der Party gar nicht aufgefallen sind, doch auf keinem einzigen Foto ist sie selbst zu sehen, und nachdem sie alle Bilder zum vierten Mal begutachtet hat, ist sie nicht mehr sicher, ob sie überhaupt auf der Party gewesen ist.
Sie sitzt in einem Bus und fährt ans andere Ende der Stadt, und während sie jedem Blickkontakt mit den anderen Fahrgästen aus dem Weg geht, schaut sie durch die großen Fenster nach draußen, mal nach links, mal nach rechts, mal nach vorne, sieht die Fassaden und Seitenstraßen, doch nie schaut sie nach hinten, denn irgendwie glaubt sie, dass die Stadtteile und Häuser, die hinter ihr liegen, sich auflösen, dekonstruieren, einfach aufhören, überhaupt zu existieren.
Häufig liegt sie auf ihrer Couch und starrt an die gegenüberliegende Wand, an einen merkwürdigen Fleck, der aussieht wie ein menschlicher Kopf, und je länger sie starrt, desto mehr ist sie überzeugt, dass dieser kleine Mensch an der Wand sie besser kennt als jede andere Person in ihrem Leben, vielleicht besser als sie selbst, doch das warme Gefühl des Erkanntwerdens und der Vertrautheit, es bleibt aus, da ist keine Zuneigung, und während sie an die Wand blickt, wächst in ihr die Überzeugung, dass der kleine Mensch an der Wand viel größer ist als sie selbst, dass er auf sie hinabschaut, mit einem stechenden und zugleich desinteressierten Blick.
Sie geht in einen Club, aber vor dem Eingang muss sie in einer Schlange warten, der Türsteher mustert alle ankommenden Gäste genau, einige winkt er hinein, bei anderen verlangt er einen Personalausweis, und manchen verweigert er den Zutritt, doch als sie an der Reihe ist, beachtet er sie gar nicht, er nickt nicht, spricht nicht mit ihr, blickt in eine andere Richtung, also geht sie hinein, in den viel zu dunklen, viel zu heißen und viel zu feuchten Club, doch nach wenigen Minuten geht sie wieder nach draußen, raucht eine Zigarette, atmet die Nacht ein und eilt dann nach Hause, hin zum kleinen Menschen an der Wand.

Die Gesichter der Menschen erzählen tatsächlich Geschichten und Du findest sie heraus …
Na ja, es hält sich in Grenzen und ich komme sehr gut klar mit mir (meist) 🙂
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Das Sehrgutklarkommen freut mich! Herzliche Grüsse
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Toll, lieber Disputnik,
Du schaffst es, den Menschen, die sich im Abseits fühlen, immer wieder ein Gesicht zu geben und erstaunerlicherweise ist es immer ein anderes und doch passt es immer, denn sie sind vielfältig, die sich im Abseits fühlen, ein Menge, die keine Ahnung hat, daß sie sich in Gesellschaft befinden
Manchmal fühle ich mich auch so *schmunzel*, aber nur manchmal
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Oh, vielen herzlichen Dank für deine Worte, liebe Bruni, sie freuen mich sehr! (Häufig erzählen die Gesichter dieser Menschen die interessanteren Geschichten…)
Ich wünsch dir alles Liebe und möglichst wenige der unangenehmen Abseitsgefühle…
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