Es ist unmöglich. Vollkommen unmöglich. Der Zufall mag unermessliche Kraft haben, doch auch er muss sich innerhalb der Grenzen der Realität bewegen, muss sich an die Gesetze von Physik und Zeit halten. Es ist kein Zufall. Es ist auch kein Wunder. Es ist unmöglich.
Trotzdem sitzt sie da, auf einer Parkbank neben der Straße, während er sich in einem Bus befindet, der auf eben jener Straße vor einer roten Ampel anhalten muss. Zunächst bemerkt er sie gar nicht, sein Blick gleitet nahezu gleichgültig aus dem Fenster und an ihr vorüber, doch da muss ein kleiner Widerhaken im Bild gewesen sein, denn er lässt seine Augen zu ihr zurückkehren. Es dauert einige Sekunden, bis er es begreift. Die Erinnerung ist bisweilen eine träge Maschine.
Zwischen dem Jetzt und dem Damals liegen fünfzehn, wahrscheinlich eher zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre, in denen sich Welten dekonstruiert und neu zusammenfügt haben. Zwanzig Jahre, die ihn durch die Dinge der Welt und die Dinge der Zeit geschoben haben. Zwanzig Jahre, in denen sich nicht alles, aber sehr viel verändert hat; die Formen der Kommunikation, die Lautstärke der Meinungsfreiheit, die Skyline von New York, der Wert von Musik, die Strukturen der Gesellschaft, und er selbst sowieso, sein Leben und jedes Leben, an welchem er teilgenommen hat. Aber dieses Gesicht, ihr Gesicht, scheint sich nicht verändert zu haben. Obwohl es vollkommen unmöglich ist, dass sie überhaupt hier ist.
Das Gesicht, es ist noch immer so schön und weich wie damals, so sanft und klug, so freundlich und warm, so lebendig und jung wie vor zwanzig Jahren. Er denkt an die bodenlosen Gespräche und das gemeinsam entdeckte Neuland, an Konzerte und Spaziergänge, an Rotwein und Gras. Er denkt an ihre Handschrift und das leichte Gurgeln in ihrer Stimme. Er denkt an ihr Lachen, kehlig und ungebremst. Er denkt an ihren Mut und ihre Kraft, an ihre Zuversicht, als die Diagnose feststand. Er denkt an den Zerfall und an die lähmende Ohnmacht. Er denkt an die letzten gesprochenen Worte und an jene, die ungesagt blieben. Er denkt an die beiden Freundinnen mit ihren Gitarren und das Wetter beim Begräbnis. Er denkt an die Lücke.
Und jetzt sitzt sie dort, auf dieser Parkbank, zwanzig Jahre nach dem Damals. Es ist unmöglich. Vollkommen unmöglich. Er hebt die Hand, doch sie sieht ihn nicht. Dann wechselt die Ampel auf Grün, und der Bus fährt weiter.

Gänsehaut….gespenstisch gut.
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Vielen lieben Dank dir!
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