Da ist keine Couch. Eigentlich sollte da eine Couch sein, eine Liege aus schwarzem Leder, zumindest eine Polsterbank mit Rückenlehne, doch er sieht sich vergeblich danach um. Wenn Menschen in Filmen zum Psychiater gehen, legen sie sich immer auf eine Couch, und Paul ist enttäuscht, dass er bei Dr. Peter, seinem neuen Psychiater, stattdessen auf einem simplen Stuhl Platz nehmen muss. Es ist offensichtlich ein Designerstuhl, gefertigt aus weißem Kunststoff und konsequent unbequem, mit dünnen Armlehnen, die ins Fleisch schneiden, wenn man die Arme darauf abstützt. Falls dem Psychiater das Wohlbefinden seiner Patienten am Herzen liegt, ist der Stuhl keine große Hilfe.
Paul hockt also auf diesem Stuhl, während Dr. Peter auf einem bequemen Ledersessel sitzt, der sich in weiter Ferne befindet, am anderen Ende dieses riesigen Raumes. Zwischen ihnen liegt ein großer weißer Teppich auf dem Boden, der so rein und unbefleckt aussieht, als hätte ihn noch nie jemand betreten. Er kann die Gesichtszüge des Psychiaters nicht richtig erkennen, und wenn er etwas sagt, muss er es häufig wiederholen, da er zunächst nicht laut genug spricht und Dr. Peter ihn nicht verstehen kann. Er schreit seine Gefühle in den Raum, damit sie den älteren Herrn erreichen, der ein Notizbuch in seinen Händen hält, aber nie etwas notiert. Irgendwie ist die ganze Situation lächerlich. Der Psychiater ist lächerlich, die Tatsache, dass er einen Vornamen als Nachnamen trägt, ist lächerlich, der riesige Teppich ist lächerlich, der unbequeme Stuhl ist lächerlich. Vor allem Paul selbst ist lächerlich, zumindest fühlt er sich so.
Dr. Peter befragt ihn über seine Kindheit, über die Beziehung zu seinen Eltern, über das Verhältnis zu seinem Bruder, über Freundinnen und Freunde. Er fragt nach den Gedanken, die sich in seinem Kopf eingenistet haben, will wissen, in welchen Momenten sie sich besonders heftig zeigen. Paul antwortet einsilbig und ist jedes Mal unsicher, ob er lügt oder eine Art von Wahrheit sagt. Irgendwann murmelt Dr. Peter einige Worte und geht aus dem Raum. Paul bleibt allein zurück und sieht sich vorsichtig um. An zwei Wänden stehen hohe Regale mit Büchern und kleinen Figuren aus Ton. An der dritten Wand hängen Landschaftsaquarelle. Die vierte Wand besteht beinahe komplett aus Fenstern. Er blickt hinaus in den Herbstabend. Der Himmel wird allmählich dunkelblau, vereinzelte Wolken hängen über dem Horizont.
Zunächst nimmt Paul es gar nicht richtig wahr, bemerkt nur eine Bewegung im Augenwinkel. Dann ist es da, schwebt langsam vorüber. Es ist weder ein Flugzeug noch ein Hubschrauber, auch kein Vogel, kein Lebewesen. Es hat keine richtige Form, keine Kanten, trotzdem sieht er es genau. Im Innern des Objektes glaubt er ein blinkendes Licht auszumachen, doch sicher ist er nicht. Das Objekt fliegt allmählich über die Silhouetten der Stadt, wechselt kurzzeitig die Richtung, scheint dann zu beschleunigen und verschwindet schließlich aus seinem Blickfeld.
Er glaubt nicht an Gott, er glaubt nicht an Geister, er glaubt nicht an Schicksal oder ein Leben nach dem Tod, und eigentlich glaubt Paul auch nicht an Besucher aus dem Weltall. Zwar ist er überzeugt, dass es irgendwo da draußen noch weitere Existenzformen gibt, doch ebenso überzeugt ist er, dass sie nicht das Bedürfnis haben, die Erde aufzusuchen. Umso mehr verwirrt es ihn, dass er keine naheliegendere Erklärung für das Phänomen am Himmel findet. Paul spekuliert über die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich ein Transportmittel von Außerirdischen gewesen ist, fragt sich, was sie vorhaben könnten; er denkt an die lärmigen Hollywoodfilme über Außerirdische und Invasionen aus dem All und schüttelt den Kopf darüber, dass er ihnen tatsächlich ein Körnchen Wahrheit attestieren könnte. «Spinnst du?», zischt er und lässt die Frage unbeantwortet.
Als sich die Tür öffnet, zuckt Paul heftig zusammen und fühlt sich ertappt. Dr. Peter tritt ein und geht langsam zu seinem Sessel, setzt sich wieder hin und blickt ihn an. Dann öffnet er eine Schublade seines Schreibtisches und holt einen Stapel mit Karten hervor. «Sagen Sie mir bitte, was Sie auf den Karten sehen», sagt Dr. Peter und hält die erste Karte hoch. Es ist ein Farbklecks, eine abstrakte Form, blau und grün. Paul zuckt mit den Schultern und erklärt rufend, dass ihn die Form an einen Drachen erinnere. Dr. Peter nickt und zeigt die nächste Karte. Er sieht einen alten Mann, eine Krähe, ein Haus, einen Fisch, und dann sieht er das Objekt, das zuvor über den Himmel schwebte. Er schluckt leer und blinzelt einige Male. Schließlich stammelt er etwas, bricht dann aber ab und beißt auf seine Unterlippe. «Ich weiß nicht, was das sein könnte», erklärt Paul flüsternd und ist überrascht, dass ihn Dr. Peter auf der anderen Seite des Raumes hören kann.
Nach der Sitzung tritt Paul ins Freie und blickt zum Himmel, der noch die letzten Überreste des Tageslichtes trägt. Eine kleine Wolke hat die Form eines Drachens. Eine Krähe sieht er nicht, auch keinen Fisch. Er senkt seinen Blick und geht weiter. Paul überlegt sich, am nächsten Tag Dr. Peter anzurufen und ihm zu sagen, dass er die Behandlung lieber nicht weiterführen wolle. Wenn der Psychiater dann nach dem Grund fragen würde, könnte er sagen, dass der unbequeme Stuhl schuld sei. Er ist unsicher, ob er dabei lügen oder eine Art von Wahrheit sagen würde.

Eine feine, feinsinnige Geschichte, in der ich gelächelt und mich dann mit Paul beraten habe, was er da draußen gesehen haben könnte. Aber auch gemeinsam kamen wir zu keinem schlüssigen Ergebnis.
Ich habe ihm aber geraten, weiter in diese Therapie zu gehen und den unbequemen Stuhl einfach mal näher zu rücken … Alles weitere wird sich dann nach und nach zeigen *g*
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Was man in gewissen Momenten sieht, kann man sich oftmals bei klarsten Sinnen nicht erklären… Deinen Rat hätte Paul vielleicht beherzigen sollen, ja…
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken und Worte, liebe Bruni…
Viele Grüsse ins Wochenende…
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Ich bin froh, dass du erwähnt hast wie komisch der Name ist.
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Ich bin froh, dass du froh bist… Herzlichen Dank dir fürs Lesen…
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