Der Vater stöhnt und ächzt, dann hustet er kurz.
«Mir ist es zu eng hier.»
Er schnappt nach Luft und zieht am Kragen seines Polohemdes, auf welchem auf Brusthöhe ein grünes Etwas aufgenäht ist, das wohl jenes bekannte Krokodil darstellen sollte, aber eher an eine Seekuh erinnert. Der Vater selbst sieht ein wenig aus wie ein dickes, längst ausgestorbenes Tier.
«Was ist dir zu eng?», fragt der Sohn gewohnt lustlos.
«Alles», schnaubt der Vater und schiebt sich eine Gabel mit Nudeln zwischen die fleischigen Lippen.
«So genau wollte ich es gar nicht wissen», murmelt der Sohn.
«Diese Stadt! Dieses Land! Diese verdammt Wohnung! Alles ist so eng, so banal. Man kann ja kaum atmen. Die Leute drehen durch, die Politiker sind Trottel, alle jammern. Ich will weg von hier.»
Er legt sein Besteck nieder und setzt einen triumphierenden Blick auf, als habe er gerade ein scheinbar unlösbares Rätsel gelöst.
«Wo willst du denn hin?» will die Mutter mit unsicherer Stimme wissen. Der Vater dreht seinen Kopf zu ihr hin, die Fettpolster und Hautfalten an seinem Hals verformen sich leicht.
«Keine Ahnung. Irgendwohin. Einfach weg. Dänemark, vielleicht.»
«Warum Dänemark?», fragt der Sohn.
«Die sind glücklich, die Dänen», erwidert der Vater. «Niemand ist so glücklich wie die Dänen. Oder die Norweger, ich weiß nicht mehr genau.»
«Wer sagt das?»
«Studien.
«Studien?»
«Studien.»
«Aha.»
«Ja.»
«Du bist aber kein Däne», grummelt der Sohn. «Und du wirst auch kein Däne, wenn du dort hinziehst.»
«Ich glaube, ich würde mich dort wohler fühlen, auch wenn ich fremd wäre», meint der Vater erbost und wird ein wenig rot im Gesicht.
«Aber fremd sein kannst du doch auch zu Hause», wirft die Mutter mit schriller Stimme ein. «Da musst du doch nicht nach Dänemark gehen!»
«Er geht nicht nach Dänemark», sagt der Sohn mit spöttischer Miene. «Auf keinen Fall.»
«Ach ja? Was macht dich denn so sicher, dass ich nicht nach Dänemark gehe?», will der Vater wissen.
«Weil du zu faul bist.»
«Sprich nicht so mit deinem Vater», ermahnt ihn die Mutter.
«Bah!», bellt der Sohn.
«Ausgerechnet du sagst mir, ich sei zu faul! Ausgerechnet du! So faul, bequem und verwöhnt wie du werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr! Also halt doch lieber die Klappe!»
«Sprich nicht so mit deinem Sohn», ermahnt ihn die Mutter.
«Bah!», bellt der Vater.
Dann essen sie schweigend ihre Nudeln, trinken Wasser aus den alten Gläsern und bemühen sich, ihre Blicke nicht aufeinandertreffen zu lassen. An der Wand hängt das gezeichnete Bild einer Schildkröte. Sie steht auf ihren zwei Hinterbeinen und trägt einen Stock über der Schulter, an deren Ende ein verknotetes Leintuch befestigt ist, das wohl ihr gesamtes Hab und Gut enthält. Die Schildkröte blickt auf die Familie am Esstisch und schüttelt ganz langsam ihren Kopf. Dann zündet sich die Schildkröte eine Zigarette an und geht allmählich aus dem Bild. Nach Dänemark, vielleicht.

Manchmal muss man es wie die Schildkröte machen… Aber je länger man sitzen bleibt, je mehr Nudeln man sich auf die Hüften isst, desto schwieriger wird es.
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Jaha, die Zeit macht derartige Dinge nicht immer einfacher… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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*grins*, ich mag die Schildkröte und ich mag Deinen Text, der so eindrücklich ein leicht deprimierendes Familien*idyll * zeigt.
Lieber Gruß von Bruni
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Das freut mich sehr, vielen Dank dir, liebe Bruni…
Herzliche Grüsse zurück…
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(Ich bin mir sicher, dieses Schildkrötenbild zu kennen!)
Familienalltag. Traurig, irgendwie.
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(Ich hatte auch ein Bild vor Augen, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich tatsächlich je eines gesehen habe…)
Herzlichen Dank dir fürs Lesen!
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Eines, das diesem da (http://www.istockphoto.com/no/vector/turtle-cartoon-traveling-gm481486299-37134740) ähnlich ist/war. Evtl. sogar aus DDR-Zeiten.
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Das vor meinen Augen sah etwas anders aus, die Farben ausgeblichener, die Schildkröte eher grösser…
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Weniger kindlich, ja, deshalb mein Verweis auf die (mögliche) DDR-Herkunft …
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