Jeden Sommer verbrachte Arianna im Ferienhaus ihrer Großeltern im Süden Italiens, und jeden Sommer sah sie Eidechsen. Manche von ihnen kletterten ihr sogar auf den Handrücken. Bei niemandem sonst schienen sich die Eidechsen auf die Hand zu wagen, und irgendwie war sie sehr stolz darauf. Manchmal dachte sie, dass sie etwas Besonderes sei, sie glaubte, sie habe eine spezielle Gabe, und womöglich waren die Eidechsen nur ein Beispiel, mutmaßte sie, eines von vielen, ein Zeichen, irgendwie.
Sie liebte die Zeit in Italien, die heißen Tage und die warmen Nächte, die Olivenbäume und die Feigenbäume, die trockenen Felder und die schroffen Felsen am Meer. Doch nichts davon war so außergewöhnlich und aussagekräftig wie die Eidechsen. Bisweilen saß sie stundenlang bei den großen Steinen vor dem alten Ferienhaus und beobachtete die kleinen Reptilien. Manchmal setzte sich die Großmutter neben sie, schaute ihr schweigend beim Beobachten zu, doch meistens blieb sie nicht lange sitzen, ging wieder zurück zum Haus, um einen Salat zu waschen oder Kaffee zu trinken. Arianna blieb allein bei den Eidechsen und wartete darauf, bis wieder eine ihren Kopf zwischen den Steinen hervorstreckte.
Obwohl sie viel Zeit mit den Eidechsen verbrachte, gab es kaum solche, die sie zu kennen glaubte. Wie auch bei Krähen und Fliegen war es bei Eidechsen sehr schwierig, sie voneinander zu unterscheiden, viel zu ähnlich sahen sie aus. Nur manche Eidechsen, vielleicht ganz kleine oder solche mit einem Gebrechen, konnte Arianna klar zuordnen, und natürlich waren sie ihr die Liebsten.
In einem besonders heißen Sommer schien es mehr Eidechsen als sonst zu haben, oder sie zeigten sich häufiger. In jeder Ecke des kleinen Grundstücks huschten sie über den kargen Boden, unter jedem trockenen Strauch ertönte ein Rascheln. Arianna war begeistert und saß jede freie Minute vor dem Haus, um die kleinen Tiere zu beobachten.
Eigentlich war ihr genau bewusst, dass die Eidechsen sie nicht verstehen konnten. Trotzdem redete Arianna mit ihnen, bisweilen nur in einer kindlichen Lautsprache, meistens aber wie mit Menschen, mit Freunden. Manchmal erzählte sie den Eidechsen Banalitäten, dann wieder Sorgen und Ängste, und hin und wieder sprach sie Dinge aus, die in jedem anderen Kontext und mit jedem anderen Gesprächspartner unausgesprochen blieben. Sie erzählte den Eidechsen von einem wiederkehrenden Traum, in welchem sie nackt auf der Wiese beim Schwimmbad stand und von den anderen Kindern ausgelacht wurde. Sie erzählte von den Schmerzen, als sie sich bei einem Sturz vom Fahrrad den Arm brach. Sie erzählte, was manchmal in ihrem Zimmer geschah, wenn es Nacht wurde. Die Eidechsen hörten zu. Sie hörten einfach zu.
Arianna war vierzehn Jahre alt, als sie den letzten Sommer im Ferienhaus ihrer Großeltern verbrachte. Es waren heiße Wochen, noch heißer als üblich, und in der Region brannten zahlreiche Wälder. Die Großmutter war bereits sehr krank, der Großvater bereits sehr traurig, das kleine Haus bereits ungewohnt still und starr. Trotz der Hitze zeigten sich nur wenige Eidechsen, und jene, die Arianna sah, waren äußerst schreckhaft und scheu. Sie wusste nicht, dass sie nie mehr zurückkehren würde, doch etwas schien ihr merkwürdig. Vielleicht war es die Stille im Haus, vielleicht die Schweigsamkeit ihrer Eltern, vielleicht auch nur ihr eigener Körper, der sich immer mehr veränderte.
Einmal, als die Mittagshitze schwer in allen Winkeln um das Haus klebte, setzte Arianna sich an den großen Stein und wartete darauf, dass sich Eidechsen zeigten oder sonst etwas geschah. Minutenlang blieb alles still, doch dann, endlich, huschte eine kleine Eidechse unter dem Stein hervor und blieb vor ihren Füssen stehen. Sie blickten sich an; das winzige Herz der Eidechse pulsierte hektisch, doch sie rührte sich nicht von der Stelle. Bald darauf kam eine zweite Eidechse hervor und blieb ebenfalls vor ihren Füssen stehen. Dann folgte eine dritte Eidechse, eine vierte, eine fünfte. Am Ende zählte Arianna vierzehn Eidechsen. Sie redete leise mit ihnen, schwieg wieder, redete erneut, und die vierzehn Eidechsen, sie verharrten an Ort und Stelle und hörten zu. Arianna spürte ein Ziehen in den Knochen, seltsame Schmerzen in den Beinen, doch sie blieb sitzen und sprach unbeirrt mit den Eidechsen. Schließlich trat der Vater aus dem Haus, und die Eidechsen verschwanden wieder unter dem Stein.

Jetzt habe ich Fernweh…
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Dann Koffer packen und los!
Vielen Dank dir fürs Lesen. Und gute Reise 😉
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Die Eidechsen wußten mehr als sie und sie verabschiedeten sich von ihr, so wie sie sich von ihrer Kindheit, den Großeltern und ihrem kindlichen Körper, der sich zu runden begann und fraulich wurde …
Wart Ihr im Süden, auf Sizilien, lieber Ralf?
Liebe Grüße von Bruni
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Ja, wir waren im Süden, aber nicht auf Sizilien, sondern in Apulien, liebe Bruni… War traumhaft schön dort!
Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück…
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Apulien klingt guuuut!
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Was für ein zauberhaft schönes Eidechsenmärchen…
Liebe Sommersonnengrüße vom Finbar
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Vielen Dank dir, lieber Finbar!
Habe mir vor Ort inspirieren lassen 😉
Herzliche Sommergrüsse zurück…
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Das dachte ich mir fast, lieber Disputnik *lächel *
Schöne Inspiration!
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