Es ist seine letzte Tour. Er weiß nicht, wie oft er quer durch Europa gefahren ist mit dem alten Sattelschlepper; hundertmal, zweihundertmal. Er war in Sevilla und in Bari, in Kopenhagen und in Calais, in Frankfurt und in Lissabon, doch die Städte hat er nie gesehen, nur die Straßen und die Lagerhallen. Sein Rücken schmerzt, seine Augen zucken häufig, er ist müde, und immer häufiger kommt es zu Schwächeanfällen, zu kurzen Blackouts. Es hat lange gedauert, aber nun ist sie da, die letzte Tour. Nur noch einmal nach Madrid und wieder zurück nach Sofia, und dann, mit dem letzten Lohn in der Tasche, nach Hause zu seiner Familie und dem kleinen Laden, den eröffnen will, in Samokov, jener bulgarischen Kleinstadt, in der er aufgewachsen ist. Das Leben, von dem er immer geträumt hat, es ist kurz davor, endlich zu beginnen.
Die Hinfahrt verläuft reibungslos, ohne Zwischenfälle, und auch am Zielort in einer Industriezone bei Madrid kommt es nur zu geringfügigen Verzögerungen. Als er wieder losfährt, spürt er bereits beim Verlassen des Industriegeländes, wie sich die ersten Muskeln entspannen. An einer Kreuzung muss er bei Rotlicht anhalten und blickt auf das Foto an der Sonnenblende, streichelt mit seinem Daumen die Stelle, an der seine Töchter abgebildet sind. Er tut es häufig, meistens wird dabei die Welt ganz ruhig und fern. Hinter ihm hupt jemand; die Ampel hat längst auf Grün gewechselt. Er gibt Gas, dreht das Radio lauter und singt aus voller Kehle mit, obwohl er das Lied gar nicht kennt. Er fährt durch Saragossa und vorbei an Lleida, umfährt Barcelona und bewegt sich dann in Richtung Mittelmeerküste. Er liebt die Strecken, die dem Meer entlang führen, mag diese Begegnung von Wasser und Land. In der Nähe von Mataró hält er auf einem Parkplatz am Rand der Straße direkt am Meer, setzt sich auf einen Felsen am Ufer und sieht zu, wie die Flut heranrollt und das Licht allmählich schwindet, während die Farben über den Himmel ziehen. Seine Töchter würden diesen Ausblick lieben, seine Frau ebenfalls, davon ist er überzeugt. Er überlegt, ob er seine Kamera aus dem Lastwagen holen und ein Foto machen soll, um es ihnen zeigen zu können. Doch er hat schon unzählige Bilder von seinen Touren nach Hause gebracht, mehrere Fotoalben und Kartonschachteln voll, also lässt er es bleiben, schaut lediglich hinaus aufs Meer und speichert das Bild in seinem Kopf. Später legt er sich in die Führerkabine des Lastwagens und schläft sofort ein.
Am nächsten Morgen reibt er sich die Krusten aus den Augen, blinzelt hinaus aufs Meer und blickt dann auf das Foto an der Sonnenblende, streichelt ein weiteres Mal mit dem Daumen die gleiche Stelle. Er denkt an seine Frau, an die beiden Kinder und an seinen kleinen Laden, denkt an den Sonnuntergang hinter den Wäldern von Samokov und an das Brot von Petar, dem alten Bäcker an der Straße zu seinem Elternhaus. Richtig bewusst ist ihm die Tatsache nicht, dass es die letzte Tour ist. Er hatte nie Fernfahrer werden wollen, doch eine andere Arbeit fand er nicht, also fuhr er, ungern zwar, aber stets zuverlässig. Kaum ein Tag verging, an dem er nicht die letzte Tour herbeisehnte, und nun, endlich, ist es soweit. Er steigt aus dem Lastwagen, macht sich ein wenig frisch, putzt sich die Zähne und zieht ein neues Hemd an. Er geht zum Ufer, raucht eine Zigarette, während ein warmer Wind ihm Sand und Salz entgegenweht. Noch einmal denkt er daran, ob er einige Fotos aufnehmen soll, vielleicht als symbolischer Akt, irgendwie. Die letzten Bilder von seiner letzten Tour. Aber eigentlich braucht er keinen symbolischen Akt. Er will nur noch nach Hause.
Als er wieder in seinen Lastwagen einsteigen will, wirken seine Knie plötzlich weich, er wankt unkontrolliert. Er versucht trotzdem, in die Führerkabine zu klettern, doch er stürzt vom letzten Tritt und taumelt benommen auf die Straße neben dem Parkplatz. Er weiß nicht, was zuerst kommt; das Quietschen der Reifen oder das Hupen des Lastwagens. Er denkt noch kurz daran, dass er vielleicht doch noch ein Foto vom Meer hätte machen sollen. Schließlich ist es seine letzte Tour.

DAs Foto ist so wunderbar – die Geschichte mit ihrem traurigen Ausgang weniger, was aber nicht an dir liegt. – Mir war es auch gleich durch die Überschrift klar.
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Ja, das Foto gefällt mir ebenfalls. Und sorry wegen dem fehlenden Happy End… 😉
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Eine letzte Tour voller Antizipationen für die Leser und voller Drama(tik), trotz ruhiger, friedfertiger Erzählweise…
Es musste einfach so kommen…
Liebe Grüße vom Finbar
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Also ich habe ja schon von Anfang an gewusst, dass es so kommen würde 😉
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und herzliche Grüsse zurück!
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Das glaube ich dir sofort, lieber Disputnik *lächel*
Hab einen feinen Tag! Herzlich, Lu
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