Es ist der letzte Tag im Leben dieser Parkbank, doch abgesehen von einigen Mitarbeitenden der Stadtverwaltung ist dies bisher niemandem bekannt, auch die Parkbank selbst weiß nicht, was ihr blüht, was jedoch in der Natur der Sache liegt, schließlich mangelt es Parkbänken grundsätzlich an kognitiven Fähigkeiten, und eigentlich ist es auch falsch, vom letzten Tag im Leben dieser Parkbank zu sprechen, denn eine Parkbank hat eigentlich kein Leben, höchstens eine Existenz, ein Dasein, doch Leben klingt irgendwie schöner, vollmundiger, erfüllter, der Begriff beinhaltet eine gewisse Substanz, eine Bedeutsamkeit, also bleibt es dabei, es ist der letzte Tag im Leben dieser Parkbank, und während jeder andere Tag im Leben dieser Parkbank keine große Aufmerksamkeit erfahren hat und auch nicht für die Nachwelt festgehalten worden ist, soll dieser Tag, der letzte Tag im Leben dieser Parkbank, zumindest rudimentär aufgezeichnet werden; und wie die meisten Geschichten beginnt auch die Geschichte des letzten Tages im Leben dieser Parkbank am Anfang, am frühen Morgen, es wird allmählich hell, und das fahle Blau am Himmel kündigt einen milden Sommertag an, die Luft ist still und frisch, die Wiesen in der Nähe der Parkbank sind noch feucht von der Nacht, und in den Bäumen singt ein Vogel, wahrscheinlich eine Amsel, sehr laut eine Melodie, ein Lied wie aus einem Musical, vielleicht West Side Story oder Das Phantom der Oper, was natürlich merkwürdig ist, da Amseln bisher nicht als häufige Gäste von Musicalvorführungen aufgefallen sind, dieser Vogel aber, er pfeift dieses Lied, und es verleiht dem letzten Tag im Leben dieser Parkbank die ihm gebührende Bedeutung und Feierlichkeit, doch irgendwann fliegt die Amsel fort, und es wird wieder still, aber nur kurz, denn schon bald gehen die ersten Menschen über den gepflasterten Weg, der an der Parkbank vorüberführt; es sind vornehmlich Leute, die zur Arbeit müssen, oder Leute, die einen Hund bei sich führen, und einer dieser Hunde schnüffelt an der Parkbank, schnaubt kurz und hebt dann ein Bein, pinkelt angestrengt an die metallene Seitenstütze der Parkbank, und als er fertig ist, schnaubt er erneut und geht dann weiter, während die Parkbank wieder allein im warmen Morgenlicht steht und es stoisch erträgt, wie der Hundeurin verdunstet, und etwa um acht Uhr setzt sich zum ersten Mal an diesem Tag ein Mensch auf die Parkbank, es ist ein ziemlich dicker Mann, und dieser ziemlich dicke Mann rutscht mit seinem ziemlich dicken Hintern über die ziemlich dünnen Holzlatten der Parkbank, die sich biegen und dehnen, und dann packt der Mann ein Wurstbrot aus und beginnt, es zu verspeisen, mampfend sitzt er da, sieht sich aufmerksam um, und man weiß nicht, ob er achtsam ist, weil er Angst hat, dass ihm jemand sein Wurstbrot entwenden könnte, oder ob er einfach die Ruhe und die friedliche Stimmung zu genießen weiß, und als er den letzten Bissen heruntergeschluckt hat, bleibt er noch vier Minuten lang auf der Parkbank sitzen, dann steht er ächzend auf und geht weiter, doch die Parkbank bleibt nicht lange unbesetzt, denn schon bald trifft ein alter Mann ein, ganz klein und dünn, und als er sich auf die Parkbank setzt, spürt diese es kaum, die Holzlatten geben nicht nach, und der alte Mann sitzt ganz ruhig da, bewegt sich nicht, aber plötzlich beginnt er leise zu summen, keine Melodie und schon gar nicht West Side Story oder Das Phantom der Oper, sondern eher ein monotones Wimmern, beinahe brüchig, und nach fünf Minuten ist es vorbei, der kleine und dünne alte Mann steht wieder auf und verschwindet lautlos, wird weggeweht von der Zeit, die auch am letzten Tag im Leben dieser Parkbank unerbittlich vorwärtsdrängt; und die nächsten Personen, die zur Parkbank kommen, sind zwei junge Frauen, doch bevor sie sich hinsetzen, bleiben sie vor der Parkbank stehen, und eine von ihnen sagt die Worte Tom Linde Elendiger Ficker und die andere lacht, es ist nicht das erste Mal, dass jemand an diesem Ort die Worte Tom Linde Elendiger Ficker sagt, denn jemand hat die Worte Tom Linde Elendiger Ficker auf die Rückenlehne der Parkbank geschrieben, und seither stellen sich unzählige Menschen die Frage, wer Tom Linde eigentlich ist und was er getan hat, um das Prädikat Elendiger Ficker zu verdienen, auch die zwei Frauen setzen sich kurz damit auseinander, doch dann setzen sie sich hin und beginnen, miteinander zu reden, zunächst über die Banalitäten des Alltags, über eine Delle im Auto, über Störfaktoren am Arbeitsplatz, doch dann sagt eine der beiden Frauen plötzlich, dass sie sich von ihrem Freund getrennt habe, und die andere Frau antwortet mit einem schrillen Ui!, und dann sagt die eine Frau, dass sie zudem schwanger sei, und die andere Frau antwortet mit einem noch schrilleren Ui!, und dann sitzen sie eine halbe Minute stumm da, bevor die eine Frau zu weinen beginnt und die andere ihren Arm um sie legt, sie ganz vorsichtig streichelt, und schließlich erzählt die eine Frau, was passiert ist, erzählt von den vielen Streitgesprächen und einigen Handgreiflichkeiten, von stetigem Verzeihen und letzten Kräften, von ungewolltem Sex und der endgültigen Entscheidung, sich von ihm zu trennen, und sie erzählt von der lähmenden Erkenntnis, dass ein Kind in ihrem Innern entsteht, und nun wisse sie nicht, wie es nun weitergehe, Was soll ich bloß machen? flüstert sie, und ihre Freundin sagt irgendetwas, das nichts zu bedeuten hat, aber immerhin die ohnmächtige Stille übertönt, und die eine Frau erzählt noch einige Erlebnisse aus der beendeten Beziehung, bisweilen wird die Stimme dünn und bricht kurz weg, gewinnt dann aber wieder an Fassung, und nach einem Räuspern sagt sie, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin, dass sie ja eigentlich bereits wisse, was sie tun werde, und kurze Zeit später stehen die beiden Frauen auf und verschwinden, lassen die Parkbank allein zurück, die in der Folge während Stunden frei bleibt, einige Passanten lesen Tom Linde Elendiger Ficker und gehen weiter, und erst zur Mittagszeit setzt sich wieder jemand, eine Frau mittleren Alters, sie isst einen Salat aus einem Plastikgeschirr und trinkt Wasser aus einer Plastikflasche, und als sie ihre Mahlzeit beendet hat, sitzt sie auf der Parkbank und blickt sich um, beobachtet die Menschen, die ihre Mittagspausen hier verbringen oder zufällig vorübergehen, und wer in ihre Augen schauen würde, könnte aus ihnen vielleicht eine tiefe Unzufriedenheit herauslesen, eine jahrelang eingeübte Skepsis anderen Menschen gegenüber, ein zementiertes Misstrauen, doch es schaut niemand in ihre Augen, nicht jetzt und auch sonst nur sehr selten, was die Skepsis nur noch verstärken dürfte, und es merkt auch niemand, wie sie ihre Faust ballt, wie ihre Unterlippe zittert, ihr Augenlid zuckt, niemand registriert, wie sie aufsteht und langsam dem Weg entlanggeht, und nachdem sie verschwunden ist, scheint es, als wäre sie nie dagewesen, die Parkbank steht wieder alleine am Wegesrand, wird von einem weiteren Hund angepinkelt, von der warmen Sonne beschienen, später liest ein junger Mann die Worte Tom Linde Elendiger Ficker laut vor und bringt damit seine Freundin zum Lachen, doch die beiden gehen weiter, ohne sich auf die Parkbank zu setzen; es ist der letzte Tag im Leben dieser Parkbank, und offensichtlich wird auch dieser letzte Tag ein ganz gewöhnlicher Tag im Leben dieser Parkbank bleiben, ohne besondere Vorkommnisse, ohne Zwischenfälle, nur mit Menschen, die ihr Leben leben oder eben nicht, und dann, am späteren Nachmittag, kommen zwei Arbeiter von der Stadtverwaltung und bauen die Parkbank auseinander, nehmen zunächst die dünnen Holzlatten der Sitzfläche ab und lassen die Rückenlehne noch stehen, als ob sie dem elendigen Ficker Tom Linde die letzte Ehre erweisen möchten, und dann nehmen sie auch die Holzlatte der Rückenlehne ab, heben die seitlichen Stützen aus Metall hoch und reißen endgültig eine Leerstelle in den Platz, an dem die Parkbank bisher stand, sie verändern die Welt, zumindest auf diesen zwei Quadratmetern, und nachdem sie die Einzelteile der Parkbank und Tom Linde Elendiger Ficker abtransportiert haben, fliegt eine Amsel auf einen nahen Baum und pfeift eine Melodie, ein Lied wie aus einem Musical, vielleicht West Side Story oder Das Phantom der Oper, und schließlich schwindet das Licht, es wird allmählich dunkel, und am Ende des letzten Tages im Leben dieser Parkbank ist die Parkbank am Ende, der Tag ist vorbei und Tom Linde kein elendiger Ficker mehr.
