Siehst du? fragt sie, ohne eine Antwort zu erwarten. Siehst du? wiederholt sie. Ich habe es doch gewusst! Ich habe es ja gesagt! Bisweilen schiebt sie dann ein verächtliches Ha! hinterher, als ob sie eine Wette gewonnen hätte.
Als sie zum ersten Mal mit dem Flugzeug in den Urlaub reist, ist sie überzeugt, dass die Maschine abstürzen wird. Ihre Mitreisenden versuchen, sie davon zu überzeugen, dass Fliegen in der Regel eine sehr sichere Reiseform ist, doch sie ist sich sicher, dass ihr erster Flug eine der wenigen Ausnahmen von dieser Regel sein wird. Ich ziehe solche Dinge einfach an, beteuert sie, bleibt aber einen Beweis schuldig. Nach der Landung müssen ihre Freunde und sie in einer langen Schlange vor dem Schalter der Mietwagenfirma ausharren. Seht ihr? sagt sie leise. Ich habe ja gesagt, dass wir sicher stundenlang warten müssen.
Allen Männern, die ihr das Herz brechen oder es zumindest anrempeln oder ausleiern, schleudert sie ein trotziges Siehst du? entgegen. Siehst du? Ich habe es schon immer gewusst, dass man mich nicht lieben kann. Ich habe schon immer gesagt: Das kann so nicht funktionieren. Zwar ist es kein Trost, es ändert nichts an den Tatsachen, aber Genugtuung ist mitunter besser als eine ohnmächtige Leere, findet sie.
Als der Arzt eine Zyste in ihrem Unterleib entdeckt, hat sie es natürlich längst gewusst. Wenn sie davon erzählt, erklärt sie, dass es gar nicht anders hätte kommen können. War ja klar, dass mir das passieren muss. Nachdem der Arzt die Zyste entfernt hat und von vollständiger Heilung spricht, zuckt sie mit den Schultern und glaubt ihm nicht wirklich.
Siehst du? sagt sie, als die Rhododendren eingehen. Siehst du? sagt sie, als ihr ein Zehennagel in die Haut wächst. Siehst du? sagt sie, als die Autobatterie leer ist. Siehst du? sagt sie, als bei ihrem Hochzeitsfest Wolken über den Himmel ziehen. Siehst du? sagt sie, als ihre ältere Tochter sich den Arm bricht. Siehst du? sagt sie, als die alte Katze stirbt. Siehst du? sagt sie, als sie wieder nicht im Lotto gewinnt. Und dann, irgendwann, mit 102 Jahren, liegt sie in ihrem Bett, die Kinder sind bei ihr. Sie atmet unregelmäßig, erst langsam, dann schnell. Irgendwann sagt sie leise: Seht ihr? Dann verstummt sie und stirbt. Sie hat ja schon immer gewusst, dass ihr das passieren wird.

irgendwie traurig und das machts irgendwie schön und zeitlos
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Lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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*schmunzel*, ja, diese Menschen gibt es und ich denke, es gibt eine sehr große Zahl von ihnen *g*
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Ja, ich denke auch, dass es einige von ihnen geben dürfte, liebe Bruni…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen. Herzliche Grüsse!
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