Herr Ernst war gar nicht sonderlich ernst, Ernst war lediglich sein Name, er selbst hingegen war ziemlich lustig, zumindest wäre er es gerne häufiger gewesen, doch er kam nur selten dazu, tatsächlich lustig zu sein, denn er hatte allzu häufig keine Zeit, hatte viel zu tun, musste viele Dinge erledigen, und wenn er gerade nichts zu tun oder zu erledigen hatte, machte er sich oftmals Gedanken darüber, was er noch tun und erledigen musste, und daneben blieb wenig Raum und Zeit für Familie oder Freunde oder Freuden, die spaßigen und eben auch die lustigen Momente, sie blieben rar; was Herr Ernst aber leidenschaftlich liebte, war Musik, jede Art von Musik, vor allem aber solche mit schwungvollem Rhythmus, Tanzmusik eben, dabei aber nicht Walzer oder Foxtrott, sondern eher Disco-Musik, Soul, Funk, und wenn er in seiner kleinen Wohnung eine entsprechende CD in die Musikanlage schob, verwandelten sich seine vierunddreißig Quadratmeter in eine pulsierende Tanzfläche, Herr Ernst ließ seine Hüften rotieren und warf die Hände in die Luft, schüttelte seinen Hintern im Takt, und wenn sich ein Nachbar über die laute Musik beschwerte, entschuldigte er sich keuchend und tanzte mit Kopfhörern weiter, immer weiter, bis sein Körper dem Tanz ein Ende setzte und Herr Ernst erschöpft, aber glücklich auf die Couch sank, woraufhin sich die Tanzfläche wieder in seine kleine Wohnung verwandelte, und diese Wohnung wiederum war der einzige Ort, an dem er zu tanzen wagte, denn so groß seine Liebe zum Tanzen war, so groß war auch sein Unbehagen, es vor anderen Leuten zu tun, weshalb er auch die Discotheken und Nachtclubs in der Stadt tunlichst mied, und wenn er in der Öffentlichkeit Musik hörte, tat er es über seine überdimensionalen Kopfhörer und seinen alten Discman von Sony, den er sorgsam pflegte, und meistens hörte er unterwegs sanfte und ruhige Musik, um zu vermeiden, dass sein Körper ungefragt in wildes Tanzen verfiel; auch an jenem Mittwoch, seinem Geburtstag, hörte er relativ entspannte Klänge, vielleicht von Beach House oder Cat Power, doch dann kam er an einer Bibliothek vorbei, vor deren Eingang ein Tisch stand, auf welchem diverse Artikel zur kostenlosen Mitnahme ausgelegt waren, vornehmlich alte Bücher, aber auch einige CDs, und Herr Ernst, immer auf der Suche nach neuer Musik, nahm alle CDs mit, und eine davon, eine CD-Nachpressung des Albums Flashing von Jimi Hendrix und Curtis Knight, enthielt einen Song namens Happy Birthday, und weil Herr Ernst ja genau an jenem Mittwoch Geburtstag hatte, legte er die CD in seinen Discman von Sony, wählte Lied Nummer Neun und drückte Play, und während Herr Ernst bei den ersten Gitarrentönen von Happy Birthday noch aufmerksam lauschte, war es beim Einsetzen des Schlagzeugs um ihn geschehen; sein Körper begann zu zucken, zunächst nur leicht, dann immer heftiger, bis scheinbar jeder kleinste Teil von ihm in ekstatischer Bewegung war, und Herr Ernst tanzte mit geschlossenen Augen, tanzte mitten in der Stadt, tanzte zwischen all den Leuten und inmitten von Lärm und Verkehr, und die Menschen, sie blieben stehen, schauten ihm zu, verwundert und in zunehmendem Masse begeistert, denn noch nie hatten sie jemanden so einzigartig und ausdrucksstark tanzen sehen, so leidenschaftlich und beseelt, so wahrhaftig; einige begannen, Herrn Ernst mit ihren Handys zu filmen, einige wippten mit, obwohl sie die Musik, die über die überdimensionalen Kopfhörer in die Ohren von Herrn Ernst drang, selbst gar nicht hören konnten; man spürte förmlich, wie dieser tanzende Mann die Essenz der Musik in sich aufnahm und in Bewegungen umformulierte, und Herr Ernst seinerseits bemerkte sein Publikum gar nicht, er tanzte unvermindert weiter, pausierte nur kurz, wenn ein Song zu Ende war und der nächste begann, dann geriet sein Körper sofort wieder in Bewegung, und alle Menschen schauten gebannt zu, wie Herr Ernst tanzte, nur der Lastwagenfahrer, der gerade Getränkeflaschen zum nahen Supermarkt transportierte, sah Herrn Ernst nicht und fuhr ihn tot.

JIMI HENDRIX & CURTIS KNIGHT – HAPPY BIRTHDAY
Boah. Fieses Ende einer so glücklichen Offenbarung…
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Ohja… Vielen Dank dir fürs Lesen!
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*seufz*, endlich tanzte er auch mal der Straße und alle schauten begeistert, doch dann das Ende, plötzlich und wie aus *heiterem Himmel* …
Er war nicht mehr , der in sich versunkene vollkommen glücklich tanzende Mann, den Du Herrn Ernst nanntest
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Aber immerhin, immerhin tanzte er noch, vor dem Ende…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni, und herzliche Grüsse…
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*lächel*, ja!
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Darf ich eine Kleinigkeit erzählen? Hier, bei uns in der Siedlung haben wir einen Herrn Ernst. Genau wie in der disputnik’schen Geschichte – diesen Mann gibt es also wirklich. Er hat schütteres Haar und niemand weiß wie alt er ist. Er trägt immer eine beige Hose und eine hellblaue Jacke. Die Kinder aus der Umgebung nennen ihn ‚den tanzenden Mann‘. Wenn sie ihn bitten: ‚Tanz für mich‘, geschieht eine Verwandlung mit ihm. Sein Gesicht bekommt einen kindlichen Ausdruck und er beginnt zu tanzen. Hin und her und längst nicht so versiert wie Disputniks Ernst. Doch er kann perfekte Pirouetten drehen…
Er sieht aus als gäbe es nichts Schöneres für ihn als zu tanzen. Und er bekommt Lachen und Applaus. Vielleicht lachen ihn manche Kinder auch aus, weil er so bereitwillig tanzt für sie. Doch vielleicht steht er auch einfach über den Dingen und tut was ihm das Liebste im Leben ist. Niemand hier hält ihn für gefährlich oder redet böse über ihn. Vor allem die Kinder nicht, denn alle mögen ihn.
Ich werde ihn ab jetzt Jazzman nennen. Vor allem, weil ich nun auch den Herrn Ernst kenne und sein trauriges Ende.
LG
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Oh, ich mag deinen/euren Herrn Ernst, den Jazzman, es ist schön und wertvoll, dass es ihn gibt und dass er tanzen mag. Und so lange er es in verkehrsberuhigten Zonen tut, bleibt ihm vielleicht auch ein unschönes Ende erspart…
Vielen lieben Dank dir für deine Geschichte zur Geschichte! Herzliche Grüsse zurück…
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Tja, es ist sehr gefährlich im freien mit solchen Kopfhörern sich zu bewegen…
Schnell kann man dabei unter die Räder kommen!
Der heutige Verkehr versteht absolut keinen Spaß mehr…
Bin begeistert von deinem Text, lieber Disputnik, besonders gefährdet sind auch Radkuriere, die mit In-ears durch den Stadtverkehr rasen!
Herzliche Grüße
Finbar
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Aber er tanzte halt so schön…
Deine Begeisterung freut mich sehr, lieber Finbar! Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück…
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Das Ende deiner Kurzgeschichte hat mich sofort an das Ende des Romans von Muriel Barbery „Die Eleganz des Igels“ erinnert, wo die Heldin auch völlig überraschend auf der Straße starb…
Liebe Grüße zur Nacht vom Lu
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Oh, danke für den Lesetipp, das Buch kommt auf die Liste!
Herzliche Grüsse
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Also ich habe es sehr gerne gelesen…
Viel Spaß dabei!
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Danke! Und schönes Pfingstwochenende dir!
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Dankeschön *freu*
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Dieses Ende….puuuuuuuuh….
Also das war die Geschichte mit dem Paukenschlag.
Jetzt haste mich aber hellwach geschrieben…
Also dieses Ende ist doch nicht wirklich Dein Ernst?
Aber ich fürchte doch und gerade, au weia…
Und liebe Grüße…✨👌
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Doch doch, das ist mein Ernst respektive das war (Herr) Ernst… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und liebe Grüsse zurück…
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