Als sie ein Kind war, träumte sie einige Male den gleichen Traum in leicht veränderten Variationen. Sie konnte fliegen in diesem Traum, zumindest schweben, doch das erwartete Hochgefühl der Vogelfreiheit, es wollte sich nicht einstellen. Stattdessen war ihr die außergewöhnliche Fähigkeit sehr unangenehm. Ihr fehlte die Kontrolle, ihr fehlte jeglicher Halt, und sie verspürte eine gewisse Angst. Sie fürchtete den Absturz ebenso sehr wie das ungebändigte Forttreiben in endlose Weiten, die Machtlosigkeit in der Schwebe löste panische Bestürzung in ihr aus. Beim rettenden Erwachen pflegte sie möglichst rasch aufzustehen, ließ ihre Füße den Boden spüren, bewegte die Zehen, atmete langsam ein und aus, bis das lähmende Entsetzen aus ihrem Körper entwichen war.
Irgendwann verschwand der Traum aus ihren Nächten und schließlich auch aus ihrer Erinnerung. Dass er nun wieder in ihre Gedankenwelt gedrungen ist, kann sie sich problemlos erklären. Denn nach einigen Jahren des Schwankens und Wankens hat sie den Boden unter den Füssen verloren. Zwar ist da kein Schwebezustand, aber auch nicht die Gewissheit, einen sicheren Untergrund zu spüren. Ganz egal, ob sie heftig stampft oder ganz vorsichtig auftritt, der Boden scheint sie zu täuschen, fühlt sich an wie ein Betrug an der Realität. Sie betrachtet die Fugen im Parkett und vermutet eine giftige Substanz, die durch die Ritzen dringt und allmählich ihre Haut zersetzt. Sie starrt auf alten Asphalt und erkennt in den Furchen und Wunden ein Sinnbild für ihren eigenen Körper, den unaufhaltsamen Zerfall. Sie sieht Wiesen und Felder und wähnt sich in einem irren Schauspiel, in dem jedes Gras nur eine Illusion ist, jeder Halm eine Lüge. In ihrer Wohnung setzt sie sich auf einen Hocker und zieht die Füße hoch, schiebt die Knie unter ihr Kinn, um jeglichen Kontakt mit dem Boden zu vermeiden. Und während sie so dasitzt, auf dem kleinen, aber stabilen Hocker, glaubt sie, ein Kippen des Raumes wahrzunehmen. Beinahe so, als gerate ihre Umwelt immer mehr in Schräglage. Oder aber es ist der Hocker, der sich allmählich neigt, sie ist sich nicht sicher. Sie sucht nach einem Handgriff, einer Kante, irgendetwas, um sich festhalten zu können. Doch ihre Arme rudern hilflos, ihre Finger greifen ins Leere.
Sie denkt daran, wie sie als Kind einen Traum hatte. Sie saß auf einem Stuhl, und der Stuhl begann zu kippen, ganz langsam, wie in Zeitlupe. Sie konnte nichts dagegen tun, konnte das zähflüssige Kippen nicht aufhalten, konnte sich nicht bewegen. Der Konturen drehten sich stetig, der Boden kam immer näher. Kurz vor dem Aufprall wachte sie auf, damals. Heute fragt sie sich, was geschieht, wenn es kein rettendes Erwachen gibt.

Großartig!
Was war hier zuerst da, lieber Schreibfreund, dieses Foto, oder deine Erzählung?!
Liebe Frühlingsgrüße vom Finbar
LikeGefällt 2 Personen
Vielen Dank, lieber Finbar! Hier war wohl zuerst die grundsätzliche Idee da, dann das Bild, dann der Text…
Herzliche Frühlingsgrüsse zurück…
LikeGefällt 1 Person
Ist das unterschiedlich, lieber Disputnik, von Post zu Post, oder das Basispattern?!
LikeLike
Ist schon unterschiedlich, lieber Finbar, in der Regel sind die Buchstaben aber vor dem Bild da…
LikeGefällt 1 Person
…herzlichen Dank für deine Auskunft!
Save your day,
Finbar
LikeGefällt 1 Person