Sie wirft die alten Blumen in den Komposteimer, spült die Vase aus, füllt frisches Wasser auf und stellt neue Blumen in die Vase. Tulpen, dunkelrot und weiß. Dann geht sie ins Gästezimmer und platziert die Vase auf dem kleinen Tisch am Fenster. Sie sieht sich aufmerksam um, lässt den Blick über Mobiliar und Flächen gleiten, mustert die farbigen Flächen auf dem Bild von Monet. Sie streicht die Tagesdecke auf dem Bett glatt, wischt einige Staubfäden vom Tisch und nickt zufrieden. Sie lächelt und verlässt das Gästezimmer.
Als Maria in die Küche kommt, steht ihr Mann Karl an der Kaffeemaschine. Sie sind seit dreiunddreißig Jahren verheiratet. Dreiunddreißig Jahre. Von hinten sieht er noch merkwürdiger aus als von vorne, denkt Maria, so plump und unförmig. War er schon immer so? Sie rückt ihre Bluse zurecht und sagt Guten Morgen. Karl murmelt zurück, räuspert sich und zieht die Nase hoch. Gleich wird er fragen, ob sie das Gästezimmer schon gemacht habe. Dann wird er verächtlich grinsen, abwinken und den Kopf schütteln. Das tut er immer. Fragen und grinsen und abwinken und den Kopf schütteln. Karl versteht die Sache mit dem Gästezimmer nicht. «Das ist doch sinnlos», pflegt er zu sagen. «So ein Quatsch!» Er spricht nicht sonderlich häufig. Das macht die Worte manchmal seltsam schwer.
Als ihre Tochter Martina auszog, war es Karl, der vorschlug, aus ihrem alten Zimmer ein Gästezimmer zu machen. Maria hatte sich ein Arbeitszimmer gewünscht, um endlich Platz für ihre Nähmaschine und ihre Staffelei zu haben. Sie wollte mehr malen, überhaupt mehr aus der Zeit holen. Doch sie ließ sich von Karl überreden, dass ein Gästezimmer sinnvoller war. Das ist nun beinahe zehn Jahre her. Heute ist es Karl egal, was mit dem Zimmer geschieht. Er betritt es fast nie. Maria hingegen trägt dem Gästezimmer Sorge, pflegt und reinigt es, vielleicht noch mehr als die übrigen Räume im Haus. Und die Blumen sind immer frisch.
Maria glaubt, dass sie das Gästezimmer irgendwann nutzen können. Dass jemand zu Besuch kommt und bei ihnen übernachten möchte. Doch sie haben nie Besuch, höchstens hin und wieder die Nachbarn, zum Kaffee. «Womöglich bleibt ja Martina mal über Nacht», sagt Maria. Aber ihre Tochter kommt nur noch selten vorbei, und wenn, dann nur kurz, ebenfalls zum Kaffee. «Die Kaffeemaschine zahlt sich aus», findet Karl. «Das Gästezimmer ist reine Verschwendung.»
Meistens belässt es Karl dabei, sie zu fragen, ob sie das Gästezimmer bereits gemacht habe, dann zu grinsen und abzuwinken und den Kopf zu schütteln. Nur wenige Male kam es zu Auseinandersetzungen.
«Wir können das Zimmer ja jemandem vermieten», hatte Maria einmal vorgeschlagen.
«Ich will keinen Mitbewohner», hatte Karl erwidert.
«Wir könnten auch einen Flüchtling aufnehmen. Das wäre doch eine gute Sache.»
«Spinnst du? Ich nehme niemanden auf, schon gar nicht einen von denen!»
«Sie müssen doch irgendwo wohnen!»
«Aber nicht bei uns.»
Am Nachmittag geht sie einkaufen. Im Supermarkt hängt ein Zettel am Anschlagbrett. Sie liest ihn aufmerksam und nimmt ihn mit. Zu Hause zeigt sie ihn Karl.
«Schau, da sucht ein junger Mann ein Zimmer. Das wäre doch was, oder?»
«Du und dein blödes Gästezimmer», schnaubt Karl. Und während er sonst verstummt wäre, poltert er nun weiter.
«Warum machst du das überhaupt? Es wird niemals jemand in diesem Zimmer übernachten! Nie! Wir brauchen kein Gästezimmer! Wir haben keine Gäste, also brauchen wir auch kein Gästezimmer! Das ist so sinnlos! Weißt du was? Weißt du was?»
Maria schüttelt den Kopf und senkt den Blick.
«Es wird doch jemand im Gästezimmer übernachten», brüllt Karl. «Ich! Ich schlafe von jetzt an dort. Ich habe keine Lust mehr, mit dir ein Bett zu teilen. Manchmal glaube ich, dass wir uns gar nicht kennen. Im Gästezimmer bin ich besser aufgehoben.»
Dann geht Karl in ihr Schlafzimmer und kommt umgehend wieder zurück, mit seinem Kissen in der Hand. Er sieht irgendwie klein aus, findet Maria. Er geht mit seinem erbärmlichen Kissen an ihr vorbei und ins Gästezimmer, schlägt die Tür hinter sich zu. Maria lauscht, doch es bleibt still im Gästezimmer. Sie drückt ihr Ohr an die Tür, hört aber nichts. Einen Moment lang denkt sie daran, zu klopfen, hebt bereits die Hand, lässt sie aber wieder sinken und wendet sich ab.
Sie geht in die Küche, macht sich einen Kaffee und stellt sich ans Fenster. Draußen kündigt sich der Frühling an. Sie denkt daran, dass sie bald wieder Blumen aus dem eigenen Garten holen und ins Gästezimmer stellen kann. Dann spürt sie ein leichtes Stechen und ein Schwindelgefühl, es lässt sie wanken. Sie hält sich an der Kante des Fensterrahmens fest und beißt sich auf die Unterlippe.

Sehr oft typisch: Erst besteht er auf die Einrichtung eines Gästezimmers – und dann ist die Frau daran Schuld.
Leider Leben pur!
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Vielleicht wär das Leben ohne Gästezimmer einfacher… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Eine traurige Realität toll eingefangen!
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Vielen Dank dir! Herzliche Grüsse…
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Hart
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Danke dir fürs Lesen!
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ich mag Deine feinen Menschenbeobachtungen wirklich sehr. Diese Beiden konnte ich vor mir sehen…ich beiß mir immer auf die Unterlippe wenn ich nachdenke oder aufgeregt bin. Besonders gern, wenn ich was aushecke….
Liebe Grüße von der Fee
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Hauptsache, du beisst nicht zu heftig zu… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück…
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