Wenigstens friert sie nicht. Immerhin. Sie zittert nicht, die Haut wirft keine Beulen. Ihr ist auch nicht zu heiß, da ist kein kalter Schweiß, auch kein warmer. Überhaupt spürt sie sehr wenig, selbst heftige Winde weichen ihr aus, Regentropfen ändern kurz vor dem Aufprall die Richtung. Nichts vermag sie zu berühren. Aber wenigstens friert sie nicht.
Sie weiß nicht, wann es begann, aber seither ist es stets dasselbe. Mit dem ersten Schritt ins Freie scheint sich ihre Kleidung aufzulösen; ob Wollpullover oder Sommerkleid, ob Polyester oder Baumwollwäsche, alles verschwindet, plötzlich und vollständig, zerfällt zu feinen Fasern, wie tote Materie zu Staub. Sie kann nichts dagegen tun. Was und wie viel sie auch anzieht, ihr entflieht Schicht um Schicht, bis sie nackt in der Welt steht, unbedeckt, ungeschützt. Das Nacktsein an sich wäre eigentlich keine Unerträglichkeit, sie empfindet nur wenig Scham, und eben, sie friert nicht. Das einzige, was sie spürt, ist das unerbittliche Stechen der Blicke der Leute. Ganz egal, wie weit sie sich von ihnen entfernt; ihre Blicke treffen sie, dringen tief in sie ein, durchlöchern Haut und Knochen. Sie wird getroffen, selbst dann, wenn sie anderen Menschen lediglich als kleiner Punkt in der Ferne erscheint.
Das Stechen, es raubt ihr den Atem. Sie schnappt nach Luft und erwischt dabei nur so viel, dass es zum Überleben reicht. Doch jeder Schritt im freien Raum ist eine Pein, mit jeder Minute wird das Stechen lähmender. Ihre Glieder werden taub, das Schlucken tut weh, im Kopf breitet sich ein Dröhnen und Rauschen aus, ihre Muskeln und Sehnen verhärten sich immer mehr. Die Haut wird zur starren Hülle, ihr Körper scheint ihr zu engleiten. Aber wenigstens friert sie nicht.

Sie fühlt sich beobachtet, von Blicken durchlöchert und alle scheinen sie zu beobachten,
zu belauern…
Warum nur?
Fühlt sie sich fremd dort, wo sie hinkam, wo sie jetzt leben soll
und sie fühlt sich so unwohl, so nackt, so bloß?
Warum ist es so, sieht sie anders aus?
Sticht sie aus jeder Menge?
Überragt sie durch ihre Körpergröße?
Hat sie eine andere Hautfarbe?
Einen anderen Gesichtsschnitt?
Spricht sie eine andere Sprache und alle wissen es inzwischen?
Es gibt so viele Gründe…
Ich fühle mit allen, denen es so geht.
Vor kurzem las ich, *nackt in der Stadt* und automatisch dachte ich weiter
*und nackt im Dorf`*
Es steht auf dem Block rechts von mir auf meinem Kritzelblock…
LikeLike
Das subjektive Gefühl, nackt zu sein, beobachtet und belauert zu werden, es muss wohl nicht immer auch objektiv so sein; mitunter ist es vielleicht eine fixe Idee, etwas, woran man sich klammert, um der eigenen Ohnmacht zumindest eine theoretische Ursache zu verleihen. Oder man akzeptiert sich selbst nicht und glaubt deshalb, alle anderen könnten diese ebenfalls nicht. Oder ganz was anderes, wer weiss…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken und Worte, liebe Bruni…
LikeGefällt 1 Person