Jeder im Dorf kennt den J. Der J. ist einer, den man ein Original nennt, einen richtigen Typen. Der J. ist schon sehr früh alt geworden, doch er ist noch lange nicht alt genug, um zu sterben. Er arbeitet nicht mehr, und obwohl er sein Leben lang geschuftet hat, muss er nun vegetieren wie ein Tier, sagt der J. Er braucht ja gar nicht viel, und eigentlich reicht es schon, aber trotzdem, er findet es ungerecht, dass man den Ausländern und den Frauen alles in den Rachen schiebt und auf dem Silbertablett serviert, während diejenigen, die immer fleißig gearbeitet und brav ihre Steuern bezahlt haben, nun noch um Hilfe betteln müssen. Manchmal ballt der J. dann seine Faust und lässt sie auf den Tisch prallen, doch der Knall ist nicht sonderlich laut.
Der J. sagt Neger, weil man schon immer Neger gesagt hat. Der J. mag es schlicht und einfach, der Jugo ist halt ein Jugo, ganz egal, ob er nun aus Serbien oder Bosnien stammt, und egal, woher er auch gekommen ist, es wäre sowieso am besten, wenn er wieder gehen würde. Der J. hatte es nie leicht, aber früher war’s trotzdem besser. Der J. mag diese neuen Bewegungen nicht, er will keine Frauen in Männerberufen, er will keine Kinder mit zwei Vätern oder zwei Müttern. Der J. nennt Frauen Weiber, weil man schon immer Weiber gesagt hat. Der J. trinkt Bier, jeden Abend, manchmal mehr, manchmal weniger, häufig zu viel. In der Kneipe greift er dann der Kellnerin an den Hintern und macht merkwürdige Bewegungen mit seiner Zunge. Er meint das nicht böse, er macht doch nur Spaß.
Eben, jeder im Dorf kennt den J. Man mag ihn eigentlich nicht, aber er gehört irgendwie dazu, er war schon immer da. Er sagt halt, was er denkt, er ist eben authentisch. Und wenn der J. wieder einmal in der Kneipe sitzt, über das Pack im Wohnheim an der Ortsgrenze klagt und unverständliche Tiraden in taube Ohren grölt, lässt man ihn gewähren und schüttelt bloß den Kopf. Der J. ist einfach so, da kann man nichts machen.
Der M. kommt aus Afghanistan. Seit einigen Monaten wohnt auch der M. im Dorf, man hat ihm ein Bett hergerichtet in der großen grauen Unterkunft an der Ortsgrenze. Der M. ist schon sehr früh alt geworden, doch er ist noch jung genug, um als junger Mann zu gelten. Er kennt sich im Dorf nicht aus, er spricht erst ein paar Brocken Deutsch, und wenn man ihn anschaut, blickt er häufig ausweichend zu Boden. Niemand im Dorf weiß etwas über den M. In der Unterkunft ist er der M. in Zimmer 118, im Dorfladen ist er nur einer von denen, wobei dieses denen immer auf eine Weise betont wird, als wäre das Aussprechen des Wortes mit Schmerzen verbunden.
Der M. hat den Kopf voller Geschichten, aber niemanden, dem er sie erzählten könnte. Man hat dem M. gesagt, er müsse wieder zurück nach Afghanistan, aber im Moment ist er noch hier, im Dorf. Manchmal schleicht sich der M. nach dem Ende eines langen Tages aus dem großen grauen Haus. Er mag die klaren und stillen Nächte hier, er mag die Sterne und er mag die Tatsache, dass sie hier nicht anders aussehen als zu Hause in Afghanistan. Außerdem ist es manchmal angenehmer, niemandem zu begegnen.
Als er wieder einmal durch das nächtliche Dorf geht, hört er jemanden singen. Es ist kein schöner Gesang, es ist wahrscheinlich gar kein richtiges Lied, sondern lediglich ein trunkenes Gekrächze. Der M. weiß nicht, wer da singt, und er mag es auch nicht herausfinden. Er sieht sich um und fragt sich, wie er dem Betrunkenen bestmöglich ausweichen kann, als das Gegröle plötzlich verstummt. Nach einem merkwürdigen Klatschen ist das Dorf wieder still. Der M. geht vorsichtig weiter und sieht sich immer wieder um. Als er am kleinen Dorfbach vorbeikommt, glaubt er, im schwachen Licht einer fernen Straßenlaterne ein dunkles Etwas zu erkennen, das am Ufer liegt und ins Wasser ragt. Er bleibt stehen und versucht, die Silhouette zu deuten. Eigentlich zweifelt er nicht daran, dass es sich um einen Menschen handelt. Trotzdem verharrt er kurz. Einige Sekunden lang steht er reglos in der Nacht, während das Wasser im Dorfbach friedlich plätschert. Dann läuft er den kleinen Abhang hinab zum Ufer.
Der Körper ist schwer und träge, ein dicker, plump wirkender Mann. Der M. zieht mit aller Kraft, aber nur mit Mühe gelingt es ihm, die Gestalt auf die kleine Grasfläche zu zerren. Er dreht den Mann auf den Rücken, horcht auf Atmung und leistet Erste Hilfe. Beim Beatmen muss sich der M. beinahe übergeben, so beißend ist der Geruch, den der Körper absondert. Schließlich zuckt der Mann, ein Röcheln dringt aus der Kehle, dann ein heiseres Husten.
Der M. fragt den Mann in groben Wortfetzen, ob er okay sei. Der Mann nickt langsam und murmelt etwas, doch M. versteht nicht. Er hilft dem Fremden auf die Beine, steigt mit ihm den kleine Abhang hinauf zur Straße und begleitet ihn zur nahen Parkbank, wo er den Mann hinsetzt. Noch einmal will der M. wissen, ob alles in Ordnung sei. Der Mann bejaht und blickt sein Gegenüber mit trüben Augen an. Der M. verbeugt sich leicht, sagt ein paar Worte in persischer Sprache und geht mit raschen Schritten weiter. Der Mann auf der Parkbank sieht ihm nach, bis er hinter einer Häuserecke von der Dunkelheit verschlungen wird.
Einige Tage später sitzt der J. in der Kneipe, trinkt sein viertes Bier. Nach einer kurzen Klage über das Rauchverbot steht er auf und schlurft vor die Haustür, wo er sich eine Zigarette anzündet. Dass ein junger Mann sich nähert, bemerkt er nicht, er fällt ihm erst auf, als er direkt an ihm vorüber geht. Der J. schaut den jungen Mann kurz an. Der M. schaut zurück. Ihre Blicke treffen sich in der kühlen Abendluft. Dann starren sie beide wieder zu Boden, matt und müde, als wäre nichts geschehen.

Dorforiginale gibt es wohl überall…
Doch…
Manche Dörfer scheinen voll davon
Zu sein…
Liebe Frühlingsgrüße vom Finbar
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Jaja, die Dorforiginale in den Originaldörfern…
Lieben Dank dir fürs Lesen und herzliche Frühlingsgrüsse zurück…
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Er war wohl schon zu alt und zu besoffen, um wirklich mitzukriegen, wer ihn da gerettet hat, der J.
Schade, er hätte doch so viel lernen können, seine vermutlich allerletzte Chance hat er vertan.
Eine gute Geschichte, die Du geschickt erzählt hast, lieber Disputnik
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Ja, vielleicht war’s die letzte, aber wohl kaum die erste Chance, die er vertan hat…
Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte…
Liebe Grüsse!
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