An einem Dienstagabend im Januar konnte man auf einigen Nachrichtenplattformen im Internet die Meldung lesen, dass in Kalifornien eine Schießerei in einem Militärkrankenhaus im Gange sei. Ein aktiver Schütze sei im Gebäude unterwegs, Angestellte und Patienten sollen sich verstecken, wegrennen oder kämpfen. Mehr sei derzeit nicht bekannt.
Es hätte eine wirkliche Geschichte werden können. Nicht schön, nicht erfreulich, nicht lustig, sondern eher tragisch, traurig, erschütternd, furchtbar; schließlich sind auch das Attribute, die einer Begebenheit mitunter Relevanz und Substanz verleihen und aus einer banalen Geschichte eine wahrhaftige Geschichte machen können. Doch es wurde keine wahrhaftige, keine wirkliche Geschichte. Es gab eigentlich überhaupt keine Geschichte. Denn nach einigen Stunden erschien die Nachricht, dass es keine Belege für eine Schießerei in jenem Militärkrankenhaus gebe, es habe lediglich jemand Geräusche im Keller des Gebäudes gehört, die wie Schüsse geklungen hätten. Bei der Überprüfung des Geländes habe man aber keinerlei Hinweise auf eine Gewalttat oder gar auf einen Amokläufer finden können.
Es hätte eine wirkliche Geschichte werden können, doch daraus wurde nichts, wie aus so vielen vermeintlich wirklichen Geschichten nichts wird. Man bewirbt sich um einen Traumjob und kommt in die enge Auswahl, muss dann aber einem anderen Bewerber den Vortritt lassen. Man lernt eine Frau kennen, verbringt einen schönen Abend mit ihr und sieht sie niemals wieder. Man begegnet einem alten Mann, der vom Krieg erzählen will, doch dann muss er heftig husten, und danach schweigt er wieder. Manchmal ist es die Wahrheit, die sich der Geschichte in den Weg stellt. Manchmal ist es die Angst, die den Fortgang der Geschichte verhindert. Manchmal sind es Naturgesetze, unglückliche Umstände oder auch einfach nur der Zufall.
Eine Geschichte kann nur wahrhaftig sein, wenn sie erzählt werden kann, und wenn es nichts zu erzählen gibt, ist es eigentlich keine wirkliche Geschichte. Und bei manchen Geschichten, aus denen nichts wurde, fragt man sich womöglich, was sich verändert hätte, wenn sie zu wirklichen Geschichten geworden wären. Welche weiteren Geschichten daraus entstanden wären. Und wie sich auch diese wieder entwickelt hätten. Meistens ist es nicht sonderlich schlimm, wenn eine Geschichte im Sand verläuft, sich als unwahrhaftig entpuppt oder abrupt abbricht. Doch manchmal bringt schon die Möglichkeit einer Geschichte die Dinge aus dem Lot. Ein unbegründeter Verdacht oder falsche Anschuldigungen können Existenzen bedrohen. Eine bloße Behauptung kann einen Krieg auslösen, dessen Folgen auch die Widerlegung der Behauptung nicht besser macht. Ein erfundenes Szenario kann Meinungen beeinflussen und gesellschaftliche Gräben noch tiefer machen. Falsche Fakten und populistisches Gezeter können eine politische Diskussion bis zur Unkenntlichkeit verzerren.
Der Bericht über meinen Tod wurde stark übertrieben, schrieb Mark Twain einst. Und erzählte damit eine Geschichte, die davon handelt, dass es keine wirkliche Geschichte gibt. Mark Twain starb später trotzdem. Die übertriebenen Berichte haben jedoch überlebt. Auch wenn sie nach wie vor keine wirklichen und wahrhaftigen Geschichten erzählen.

Im Leben werden nur aus denjenigen Entscheidungsmöglichkeiten wahre Geschichten, für die man sich tatsächlich entscheidet…
Eventualitäten gibt’s natürlich ungleich mehr, doch verschwinden sie alle sehr schnell im Nebel und werden nicht weiter verfolgt…
Liebe Grüße zur Nacht vom Finbar
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Ja, aber manchmal verbirgt sich Spannendes im Nebel; oder die Möglichkeit, dass sich etwas im Nebel verbirgt, ist spannend, irgendwie…
Vielen herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar…
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Ich weiß schon, lieber Schreibfreund, genau DIESE Möglichkeiten sind es ja, die dich neugierig machen und schreibtechnisch herausfordern…
*lächel*
Dir einen schönen Tag!
Liebe Morgengrüße
vom Finbar
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Ja, so ist es wohl, genau… Dir ebenfalls einen schönen Tag und eine gute Restwoche… Herzliche Grüsse…
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Ja, so ist es wohl… 🙂
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Gerade in der heutigen Zeit so wahr!
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Leider, ja…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Ein wundervoll tiefgründiger Text, auf die Geschichten, aus denen dann doch keine wurden und die es nie gab, oder aber in ganz und gar anderer Form und die dann keiner schrieb, obwohl sie einer hätte schreiben können, hätte er von ihr gewußt…
All das, was es nie gab und nicht geben wird oder auch kann, weil sie keiner *ausspricht*, würde Bibliotheken füllen
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Ja, liebe Bruni, die Geschichten, die es nicht gibt, würden Bibliotheken füllen, und es wäre sicher spannend, in den einen oder anderen Büchern ein wenig zu schmökern…
Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte. Und ein schönes Wochenende dir…
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