Du verdammtes Arschloch, ruft man in die kühle Morgenluft, doch niemand hört die Worte, erst recht nicht der Fahrer des mittelgroßen Lieferwagens, der soeben beim Wegfahren von der Tankstelle eine mittelgroße Delle im Blech des mittelgroßen Autos hinterlassen hat, das nun verletzt an der Tankstelle steht, und womöglich hat der Fahrer des Lieferwagens sein Missgeschick nicht einmal bemerkt, vielleicht war er überzeugt, er habe sein Fahrzeug erfolgreich um das geparkte Auto herum manövrieren können, doch das ändert nichts an der Delle, und man bückt sich und lässt die Finger über die beschädigte Stelle gleiten, blickt sich hilflos um und flucht erneut, verdammte Scheiße, muss denn das sein, und man denkt daran, was das wieder kostet, und dann die ganzen Umtriebe, und man mag das nicht, doch man kommt nicht umhin, die Polizei zu informieren, weil sonst die Versicherung nichts bezahlt, und dann gibt es eine Anzeige, und die Polizei analysiert den Schaden, und dann werden die Videoaufnahmen der Tankstelle ausgewertet, und dann wird der Halter des mittelgroßen Lieferwagens ermittelt, und irgendwann kann das Auto dann repariert werden, die Versicherung des Schadenverursachers bezahlt die Werkstattkosten, und eigentlich ist doch alles wieder gut, aber eben, es hätte wirklich nicht sein müssen, findet man, all die Abklärungen mit der Versicherung und der Polizei und der Reparaturwerkstatt, die ganze Sache war einfach ziemlich nervenaufreibend und mühsam, ein Unding, das sich in den Lauf der Zeit legte.
Es sei eine regnerische Nacht gewesen, damals in Eritrea, als er losgerannt sei, und weil er wusste, dass sie ihn erschossen hätten, wenn er stehengeblieben wäre, sei er immer weiter gerannt, die eigentliche Flucht dauerte ein Jahr, und er ist weiterhin unterwegs; mittlerweile muss er nicht mehr rennen, aber er ist noch immer nicht wirklich angekommen, er wohnt derzeit in einem alten und baufälligen Haus, das demnächst abgerissen wird, und was danach mit ihm geschieht, weiß er nicht, aber er ist einfach froh und dankbar, dass er eine Bleibe hat und in Sicherheit ist, und wenn er von seinem Leben und von den Toten und von seiner Flucht erzählt, weiß man genau, dass man gar nicht erst versuchen muss, sich in seine Lage zu versetzen, weil es völlig unmöglich ist, und man ist erstaunt, dass seine Augen zwar manchmal so wirken, als hätten sie sich noch nicht ganz an die Helligkeit gewöhnen können, sein Lachen hingegen aber so rein und klar scheint, mitunter frei von Qual, aber noch immer unsicher, und man mag den Moment sehr, diese Begegnung, dieses Aufeinandertreffen, man spürt, wie sich im eigenen Innern etwas füllt, und trotzdem ist da ein merkwürdiges Gefühl, ein leichtes Schwanken vielleicht, ganz kurz, und man schluckt leer und starrt einige Sekunden lang auf einen Punkt am Boden, und dann, viel später irgendwann, denkt man an die Kollision an der Tankstelle, und man verspürt das latente Bedürfnis, sich beim Fahrer des mittelgroßen Lieferwagens dafür zu entschuldigen, dass man ihm Du verdammtes Arschloch, nachgerufen hat, obwohl er es ja nicht hören konnte, damals in der kühlen Morgenluft.

Oh ja, wir überschätzen das, was uns oft passiert und nicht hätte sein müssen. Doch es passierte.
Was ist eigentlich so schlimm daran, mit einem Dellenauto zu fahren? Mit z.B. ist es piepegal, Hauptsache, es fährt mich hin, wo ich hin will…
Nach allem das Lachen nicht verlernt zu haben, das ist etwas Besonderes, die kleinen Lack- und Blechschäden, die uns durch´s Leben begleiten, sind unwichtig…angesichts einer wirklichen Katastrophe
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Nein, ist tatsächlich nicht schlimm, eine Delle im Auto zu haben, vor allem im Vergleich zu manch anderen Ereignissen, die mehr als nur Blechschaden hinterlassen. Doch man regt sich vielleicht trotzdem auf. Und dann regt man sich auf, weil man sich aufgeregt hat. Oder so.
Herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Worte. Und liebe Grüsse…
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Ja, so ähnlich *g*
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Ein intensiver und starker Text der manche Relationen zurechtrückt. Gefällt mir sehr gut! Danke!
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Das freut mich sehr! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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