Am Boden klebt ein Kaugummi, ganz alt und hellgrau und zertreten. Sie blickt auf den runden Fleck auf dem Asphalt und schüttelt den Kopf. Manchmal wundert sie sich über die Leute, die ihre Kaugummis auf den Bürgersteig spucken. Diese Bequemlichkeit ist ihr zuwider, sie sieht nicht ein, weshalb die Kaugummis nicht einfach im Mülleimer entsorgt werden können. Sie geht weiter und sieht unzählige weitere hellgraue Punkte auf dem Boden. Sie fragt sich, ob irgendwann der ganze Bürgersteig mit Kaugummis bedeckt sein wird.
Zu Hause in ihrer kleinen Wohnung zieht sie ihren Mantel und die Schuhe aus, schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein und setzt sich ans Fenster. Sie blickt hinaus auf die enge Straße und die schmucklosen Fassaden der Häuser. Sie wohnt schon so lange in diesem Städtchen, das dennoch nie eine Heimat hatte werden können, und ein Zuhause, das gab es nur früher, als sie noch nicht allein lebte. Zu Hause war sie niemals in einem Haus oder einer Wohnung, sondern bei Menschen, bei ihrer Familie. Vielleicht blickt sie darum so häufig aus dem Fenster. Weil die Wohnung hinter ihr so unerträglich still und stumm ist.
Seit sie denken kann, wollte sie von Nutzen sein, und alles, was sie tat, sollte von Nutzen sein. Schon als Kind, damals für ihre Eltern, für die Geschwister, für die Verwandten. Danach dann im Beruf, und schließlich für ihren Mann, für die Kinder, für die Katzen. Doch die Zeit ließ alles, was ihr warm und wichtig war, von ihr wegbrechen, wie bei einer Sandburg, von Wellen umspült. Und dann, als das Rauschen vorbei war, stand sie da, in jenem schrecklichen Schweigen.
Manchmal sagt jemand, sie sei doch noch viel zu jung, um eine alte Frau zu sein, und vielleicht stimmt das sogar, doch eigentlich spielt es keine Rolle, denn es liegt nicht am Alter. Sie fühlt sich gar nicht alt, auch nicht krank. Doch sie ist nicht mehr von Nutzen, zumindest in ihren Augen, und das sind die einzigen Augen, mit denen sie etwas sehen kann. Und wenn sie dort am Fenster sitzt und genau hinschaut, kann sie die hellgrauen Flecken auf dem Bürgersteig erkennen, die Kaugummis auf dem Asphalt.

Oh Mann, das geht in die Seele, diese traurige Einsamkeit…
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Danke, dass du’s hineinlässt, das Gefühl… Und herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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Mir fehlen die Worte. Vielleicht schafft es dann doch jemand einer Person, die das gerade durchmacht, mit einem Lächeln wieder Mut zu machen. Und ihr zu zeigen, dass es im Leben nicht darum geht von Nutzen zu sein, sondern um das Miteinander.
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Ja, es ist zu hoffen, dass es solche Mutmacher gibt, und dass ein Lächeln dann auch Anklang findet… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und deine Worte…
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Nicht mehr von Nutzen sein, kann das Schlimmste sein.
Keiner mehr da, dem man helfen kann, keiner mehr da, der nach einem ruft, keiner mehr da, der kurz ein Tschüss in den Raum ruft und keiner, dessen Hand man mal schnell ergreifen kann. ..
Die Nahrung der Seele fehlt…
Ein schreckliches Scenario beschreibst Du hier, lieber Disputnik.
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Diese Nutzlosigkeit, ja, sie kann wohl tatsächlich lähmend und furchtbar sein… Die Seele verhungert allmählich… Vielen lieben Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Excellent geschrieben – und dieses Schicksal gibt es häufiger, als wir denken.
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Ja, bedauerlicherweise… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Wie traurig…
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Hmmja… Trotzdem lieben Dank fürs Lesen…
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