Es gab ohne Zweifel einen Grund dafür, einen Auslöser dessen, was sie tat und was dann folgte. Doch wie so vieles wurde der Grund zerrieben, der Auslöser verblasste mit der Zeit. Wahrscheinlich wollte sie einfach zeigen, wer sie war. Und womöglich hatte sie noch nicht erkannt, dass sie es nicht wusste.
Sie hatte wohl irgendwo etwas Vergleichbares gesehen. Es gefiel ihr, also imitierte sie es. Sie hängte eine Fotografie von sich selbst an das größte Fenster ihrer Wohnung in der ersten Etage, die Bildseite nach außen gewandt, hin zur belebten Fußgängerzone in der autofreien Innenstadt. Zunächst war es nur ein einziges Bild, eine bereits etwas ältere Aufnahme ihres Gesichtes im Halbdunkeln. Die Konturen und Kontraste verliehen ihrem Antlitz eine ungeahnte Eleganz, es wirkte geheimnisvoll und anmutig, sehr kunstvoll, ohne künstlich zu sein.
Freunde und Bekannte reagierten unterschiedlich. Manche waren ehrlich begeistert vom Bild und ebenso von der Tatsache, dass sie es an ihr Fenster hängte. Andere waren zurückhaltender, skeptisch und sogar ablehnend. Und vielen schien es einfach egal zu sein. Schon bald wurden die Rückmeldungen seltener und blieben schließlich gänzlich aus. Die Leute auf der Straße, die in den ersten Tagen zumindest einige Blicke riskiert hatten, gingen weiterhin schweigend unter ihrem Fenster vorüber und schauten nicht einmal mehr auf.
Sie sagte zu sich selbst, dass ihr dieses Ignorieren nichts ausmachte, und merkte sogleich, dass sie ein wenig errötete. Es tat nicht wirklich weh, aber da war ein spürbarer Stich. Nach einigen Tagen kramte sie in einer Kiste, fand ein paar weitere Fotos und ließ Vergrößerungen anfertigen. Sie wechselte das Bild am Fenster aus. Und wartete.
Die Reaktionen waren spärlich, sehr spärlich. Sie stellte sich unten auf die Straße, blickte nach oben zu ihrem Abbild am Fenster und musste einsehen, dass dieses Foto nicht sonderlich aufregend war, weitaus weniger anmutig als das erste. Als sie es erneut austauschte, kamen noch einige anerkennende Worte von einer Freundin, sonst nichts.
Vielleicht hätte sie in diesem Moment aufhören müssen. Doch das Aufhören lag ihr nicht, sie konnte es schlecht und sträubte sich. Also machte sie weiter. Doch sie begann zu korrigieren, was ihr bisher falsch oder ungut dargestellt schien. Und sie begann, sich zu inszenieren. Zuerst war es lediglich eine Pose, harmlos und unschuldig. Doch sie wirkte. Es gab anerkennende Blicke aus der Fußgängerzone, immer wieder, und lobende Worte aus dem Freundeskreis, der sich zudem stetig vergrößerte.
Sie begann, das Foto wöchentlich auszutauschen. Jeden Sonntag kreierte sie ein neues Bild, eine neue Inszenierung, eigens angefertigt, um am Fenster für Aufsehen zu sorgen. Die Darstellungen wurden frecher und offener, die Posen aufreizender, das Auftreten selbstbewusster. Sie zeigte immer mehr Haut, kaufte neue Kleider und schöne Wäsche, nur für die Fotos. Sie begann ungesunde Diäten, um noch schlanker zu werden, investierte viel Zeit in die Pflege von Haut und Haaren, fokussierte ihren Blick zunehmend auf sich selbst, als wäre sie eine Aufgabe, die sie zu bewältigen hatte, ein Projekt, an welchem sie gemessen werden würde.
Sie erfand sich neu, zumindest glaubte sie dies. Und mit der Zeit waren ihre Fotos am Fenster nicht mehr von den Werbeplakaten und den Titelseiten der glänzenden Magazine zu unterscheiden. Auf der Straße wurde sie erkannt und angesprochen, man schob ihr Liebesbriefe und Heiratsanträge in den Briefkasten, und manchmal klingelte sogar jemand an der Tür, um seiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen. Mitunter war ihr diese neue Popularität ein wenig unangenehm und unheimlich. Doch meistens genoss sie die Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde.
Eines Tages stand ein Mann unter ihrem Fenster und starrte auf ihr aktuelles Foto. Das geschah ziemlich oft, und sie machte sich vorerst keine Gedanken. Eine halbe Stunde später war er immer noch da, und sie war ein wenig irritiert. Als sie jedoch das nächste Mal aus dem Fenster schaute, war er verschwunden. Aber schon am folgenden Tag kehrte er zurück, stand weiterhin reglos auf dem Asphalt, sein Blick fixierte ihr Bild, auf welchem sie schön und stark und zugleich ungewöhnlich verletzlich und nackt wirkte. Erneut verharrte er an der gleichen Stelle, eine Stunde lang, vielleicht sogar länger. Dann war er plötzlich weg. Dieses Geschehen, es wiederholte sich beinahe täglich, und allmählich war ihr sein Erscheinen sehr unangenehm. Eine diffuse Angst kroch in ihre Wohnung, sie fühlte sich zunehmend unsicher, und schon das kleinste überraschende Geräusch ließ sie heftig zusammenzucken.
Sie lag dösend auf der Couch, als es an der Tür klingelte. Sie fuhr unvermittelt hoch, in ihren Ohren machte sich ein schnelles Pochen bemerkbar. Langsam stand sie auf, blickte sich in der Wohnung um. Dann klingelte es erneut. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür, schaute durch den Türspion, doch da war niemand zu sehen vor der Tür. Sie vermutete, dass jemand den Klingelknopf unten am Hauseingang gedrückte hatte, und öffnete langsam ihre Wohnungstür. Sie registrierte noch einen heftigen Schlag, dann wurde alles schwarz.
Im Krankenhaus erzählte man ihr, dass ein zufällig nach Hause kommender Nachbar das Schlimmste hatte verhindern können. Seinem Eingreifen sei es zu verdanken gewesen, dass sie nur eine Gehirnerschütterung erlitt, als der Angreifer die Tür aufstieß. Die Situation hätte zweifellos auf schreckliche Weise entgleisen können, wäre der Nachbar nicht resolut eingeschritten. Man berichtete ihr, dass der Angreifer in Polizeigewahrsam sei, und sie nickte müde. Man nannte ihr den Namen des Nachbarn, doch sie kannte ihn nicht, hatte kein Gesicht vor Augen, das zum Namen passen wollte.
Einige Tage später war sie wieder zu Hause. Sie hatte Eistorte gekauft, um allfälligen Gästen etwas zum Kaffee anbieten zu können, doch es war niemand zu Besuch gekommen, nur ihre Mutter, die keine Eistorte mochte. Während sie den Brief an den Vermieter schrieb, um den Mietvertrag der Wohnung zu kündigen, klingelte es an der Tür. Sie blickte kurz durch den Türspion und öffnete dann. Ein älterer Mann, dem sie zwei oder drei Mal im Hausflur begegnet war, bedankte sich für die Blumen und erklärte, dass sein Handeln doch eine Selbstverständlichkeit gewesen sei. Sie murmelte wiederholt ein Dankeschön und verneigte sich ein wenig, dann schloss sie die Tür wieder.
Sie stellte sich ans große Fenster, an dem noch einige Klebefilmresten hafteten. Manche Passanten blickten kurz nach oben und gleich wieder nach unten; offensichtlich gab es nichts zu sehen, oder es war ihnen unangenehm. Sie hauchte an die kalte Glasscheibe und zeichnete mit der Fingerkuppe ein lachendes Gesicht. Dann sah sie zu, wie das Gesicht im Fenster sich allmählich wieder auflöste. Und schließlich verschwand.

Eine Geschichte, die ich mit großem Erstaunen gelesen habe und doch dachte ich über diese Frau nach, deren Drang, sich der Welt in aller Offenheit zu präsentieren, mir so seltsam vorkam, den ich als ebenfalls weibliche Person ganz und gar nicht nachvollziehen kann.
Was wollte sie wirklich?
Gab sie ihrer Langsweile eine Chance, langsam durch die Hintertür zu entschwinden?
Fast kommt es mir so vor.
Wollte sie vielleicht nur provozieren?
Eigentlich glaube ich es nicht.
Reaktionen testen?
Das ist zu wenig…
Geheimnisvoll auf jeden Fall, aber so, daß es reizt, dieses Geheimnis zu entschlüsseln, lieber Disputnik.
Herzliche Grüße an Dich
von Bruni
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Was sie wollte? Anerkennung vielleicht, ein Wahrgenommenwerden, vielleicht sehnte sie sich danach, dass andere etwas in ihr sahen, weil sie selbst nicht viel erkennen konnte. Oder ganz was anderes…
Vielen lieben Dank dir für dein Lesen und deine Gedanken, und herzliche Grüsse zurück…
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Mich erinnerte diese Geschichte in Teilen an ein offenbar verbreitetes Phänomen der geschönten Selbstdarstellung. Inklusive Katharsis. Hat dich ein solches eventuell inspiriert? Herzliche Grüße!
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Ja, dieses Phänomen trug durchaus zur Geschichte bei, diese (oftmals zu stark) ausgeprägte Bedeutung des eigenen Profils und dessen Wahrnehmung… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und herzliche Grüsse zurück…
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Irgendwie geheimnisvoll…
Das ganze.
Man fragt sich…
warum das alles…
L’Ennui?
Auf jeden Fall sehr lesenswert, wieder mal…
Herzliche Herbstregengrüße an dich, lieber Disputnik, vom Finbar
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Die Antwort auf dein Warum kann ich dir (natürlich) nicht geben, aber es freut mich sehr, dass du gelesen und das Gelesene gemocht hast… Vielen herzlichen Dank dir, lieber Finbar, und beste Grüsse zurück…
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Was für ein dichter Text. Da steckt einiges drin, das man erst mal verdauen muss.
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Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen und für den Verdauungsprozess…
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