Zu Beginn war es nur ein kleiner Tropfen, ein roter Punkt, der sich an die Oberseite ihres Fingers heftete, nachdem sie ihre Nase berührt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass sie Nasenbluten hatte, deshalb machte sie sich keine Gedanken. Sie glaubte, das Bluten hätte bereits wieder aufgehört, doch sie irrte sich. Es wurde stärker. Sie nahm ein Papiertaschentuch aus der Schublade und hielt es sich an die Nase.
Kurze Zeit später waren bereits mehrere Papiertaschentücher mit roten Flecken übersät, und das Nasenbluten schien kein Ende zu nehmen. Sie legte sich auf den Boden, blickte nach oben an die Decke und wartete. Das Blut lief in den Mund, der metallische Geschmack ließ sie kurz zusammenzucken. Als sie sich nach einigen Minuten aufrichtete, spürte sie, wie ein warmes Rinnsal über ihre Oberlippe und neben dem Mund hindurch über das Kinn lief und sich den Weg zum Hals bahnte.
Der Blutfluss ließ sich nicht stoppen, und allmählich wurde sie nervös. Sie überlegte sich, was mit einem Menschen passiert, der zu viel Blut verliert. Sie wankte ins Badezimmer, ein wenig benommen. Sie stellte sich vor den Spiegel und beobachtete mit wachsender Panik, wie der rote Saft aus ihrer Nase quoll, über ihre Haut rann und allmählich ihre Bluse verfärbte. Sie zog sich aus und legte sich in die leere Badewanne.
Sie wusste nicht, wann sie die Besinnung verlor und wie lange sie ohne Bewusstsein war. Als sie erwachte, war die Badewanne mit rotbraunen Flecken übersät, geronnenes Blut. Als sie ihre Haut berührte, war sie so kalt wie das Porzellan der Wanne. Sie stand langsam auf, stützte sich auf den Beckenrand, stellte sich vor den Spiegel und blickte sich an. Minutenlang starrte sie in das Gesicht, so fahl und weiß, so spröde und leer. Dann ging sie zu Bett und stand erst drei Tage später wieder auf.
Als sie aus der dunklen Wohnung vor die Tür trat, schmerzte das helle Licht des Tages in ihren Augen. Die Welt war laut und grell, ein unerträgliches Plärren und Brüllen, alles zuckte und bebte, zumindest schien es ihr so. Sie schleppte sich von dunklen Ecken zu kleinen Einbuchtungen an Gebäuden, schob ihren kalten Körper unter tiefliegenden Ästen vorwärts. Nur langsam gewöhnte sie sich an den Lärm, an die bizarre Helligkeit. Schließlich konnte sie relativ problemlos mit den Begebenheiten umgehen. Nicht aber mit den Gesichtern der Menschen.
Ihre Haut war rosig und rot, die dicken Backen glänzten, ihre Körper schienen zu vibrieren vor Energie und Leben. Alle wirkten ungemein gesund, sogar die anorektischen Damen und die Bettler mit ihren Lumpenkleidern, und der Anblick dieser Menschen machte sie wütend, erfüllte sie mit Missgunst und Zorn. Vor allem aber verspürte sie einen unerträglichen Durst. Sie trank von einem Brunnen, doch rasch stellte sie fest, dass es nicht Wasser war, wonach sie sich sehnte.
Der erste Schluck wirkte wie ein zauberhaftes Elixier, es durchströmte sie und drang in jeden Winkel. Sie trank das Blut, als hätte sie nie etwas anderes gekostet, schluckte es hastig hinunter. Als sie zu Ende getrunken hatte, ließ sie den Körper, den sie in ihren Armen gehalten hatte, langsam sinken. Totes Fleisch glitt lautlos zu Boden, der Menschlichkeit beraubt. Ihr Durst war gestillt, sie spürte das Pulsieren unter der Haut. Sie fühlte sich zufrieden, fühlte sich satt. Doch da war noch etwas anderes. Ein sanfter Rausch vielleicht, ein Gefühl von Macht. Leise atmend drehte sie sich um und ging nach Hause.
Das Nasenbluten hörte auf. Sie fühlte sich zwar noch etwas ermattet, aber durchaus wohlauf. Ihr Gesicht jedoch, es blieb blass und bleich. Als sie das nächste Mal in die Stadt ging, spürte sie einen leichten Drang, ein Zerren und Ziehen, jedes Mal, wenn sie die Haut anderer Menschen betrachtete. Zunächst hielt sie sich im Zaum, unterdrückte das Verlangen mit Erfolg. Einige Tage später jedoch gab es kein Halten mehr. Wie eine Wilde stürzte sie sich auf die erstbeste Person, die ihr begegnete, trank sie aus und ließ sie liegen.
Manchmal hörte sie die Schreie von Passanten, hin und wieder musste sie sogar fliehen, wenn man sie verfolgte, Heugabeln und Stöcke schwenkend. Doch eigentlich machte es ihr immer weniger aus, was die Menschen über sie dachten, ihre Worte und ihre Taten wurden egal. Sie waren Gebrauchsgegenstände, waren Mittel zum Zweck geworden. Und jeden Abend, wenn sie in den Spiegel starrte, schien ihr Gesicht noch bleicher geworden zu sein, schien noch weiter entfernt, ohne kleiner zu werden.
Als man sie schließlich erschlug, prallte sie auf ein graues Kopfsteinpflaster. Während sie dort lag und die Menschentraube um sie herum immer größer wurde, betrachtete sie das dünne Rinnsal, das sich vor ihr in die Ritzen zwischen den Steinen ergoss. Sie führte ihren Finger an ihre Nase und hielt ihn sich anschließend vor die Augen. Ein kleiner Tropfen war zu sehen, ein roter Punkt an der Oberseite ihres Fingers. Dann verschwamm das Bild. Und wurde schwarz.

Gefällt mir ziemlich gut…
Ich warte ja immer noch. Warte auf deine wundervollen Texte auf wunderbarem Papier gedruckt… (falls ich s noch nicht erwähnte 😉 )
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Ach ja, sie würden wohl auch gerne gedruckt werden, die Texte, ich fände das ja auch sehr schön, aber eben, der verdammte Konjunktiv…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und Warten und für deine Worte…
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Immer dieser Konjunktiv. Wenn ich könnte würde ich ihm gern ein Bein stellen 😉
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Wenn es denn nur so einfach wäre…
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