Sie hat eine Melodie im Kopf, passende Wortfetzen, die Idee eines Liedes. Sie glaubt, es wäre ein besonderes Lied, und sie möchte es festhalten, möchte es niederschreiben, so gut es geht, doch sie ist unterwegs, ohne Stift, ohne Papier. Sie sieht eine Telefonzelle, geht hinein, schließt die Tür. Sie singt das Lied in die hermetisch abgeriegelte Stille der Telefonzelle, immer wieder die Melodie, die wenigen Sätze, dann das Verstummen. Schließlich hebt sie den Hörer ab, wählt die Nummer des Anschlusses in ihrer Wohnung. Ihre eigene Stimme bittet sie, nach dem Signalton eine Nachricht zu hinterlassen. Dann singt sie das Lied auf ihren Anrufbeantworter. So fängt es an.
Zu Hause zögert sie zunächst, schiebt alles andere vor, geht wiederholt am Telefon vorbei, ohne die blinkende Taste zu drücken. Sie raucht eine Zigarette, macht eine Flasche Wein auf, füllt ein Glas bis fast zum Rand, nimmt einen großen Schluck, noch einen, raucht eine weitere Zigarette. Dann hört sie das Lied.
Es ist eigentlich sehr schön. Sie erinnert sich an die Melodie. Sie erinnert sich an die Textfetzen. Sie erinnert sich sogar an den Geruch in der Telefonzelle. Aber sie erinnert sich nicht an den Gesang, erinnert sich nicht an die Stimme. Sie klingt fremd, die Stimme, tiefer und kälter zugleich, eigenartig ungelenk und spröde.
Sie glaubt, es liege am Anrufbeantworter, ein kleiner Defekt, eine Fehlfunktion vielleicht. Sie kennt den Klang ihrer Stimme auf Band gut, sie hat zwei Aufnahmegeräte, mit welchen sie jeweils ihre Lieder festhält, und bisher wusste sie stets, wer die Person ist, die ihre Lieder singt. Nun steht sie vor dem Anrufbeantworter, drückt immer wieder die Taste und lauscht der Stimme, während ihre Hand so stark zittert, dass Wein über den Rand schwappt.
Sie duscht lange, trocknet mechanisch die Haut des Körpers, zieht Unterwäsche an und geht in das Wohnzimmer, nimmt ein altes Aufnahmegerät aus einem Schrank, stellt es auf einen kleinen Tisch und setzt sich mit einer Gitarre auf die Couch. Sie atmet tief durch, wischt mit dem Handrücken über das Gesicht, das sich gegen das Trocknen zu sträuben scheint. Dann drückt sie die Aufnahmetaste und spielt einige Akkorde, baut eine Melodie in den Raum. Die Töne reifen und formen sich, aber sie zögert das Singen hinaus, lässt nur ein zitterndes Räuspern erklingen. Irgendwann gibt sie sich den nötigen Ruck, singt zunächst zu laut und zu schnell, erholt und fängt sich dann aber.
Als das Lied zu Ende ist, drückt sie die Stopptaste, lässt die Gitarre sinken und hört dem Pochen in den Ohren zu, wie es die Stille im Raum zerstört. Staub hängt in der Luft und wirkt seltsam höhnisch.
Später, nach weiteren Liedern, gerät das Bild zunehmend in Schieflage, die Wände biegen sich, die Linien werden unzuverlässig und krümmen sich. Da ist ein Flackern in ihren Augen, sie taumelt zwischen Schwindelgefühl und Taubheit, und mit jeder alten Aufnahme, die sie sich anhört, verliert sie das Gleichgewicht immer mehr, kippt zur Seite und stellt sich mühsam wieder auf. Es sind ihre Lieder, die sie hört, ohne Zweifel. Sie kennt jeden Ton, jeden Akkord, jede Melodie, jedes Wort. Aber sie weiß nicht, wer das ist; die Person, die ihre Lieder singt.
Es wird Nacht. Es wird Tag. Sie zittert, ihr Hals trocknet aus, manchmal schüttet sie Wein hinein. Irgendwann stößt sie eine Topfpflanze um, ohne es zu bemerken. Und dann, es wird bereits wieder dunkel, schläft sie ein. Und während ihr Atem sich allmählich verlangsamt, singt jemand ihr Lied.

Was für eine Prosa,
Auf der Suche nach
Der Melodie, dem Lied,
Ihren Liedern…
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Vielen herzlichen Dank dir,
lieber Finbar!
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