Am Anfang sind die Schritte noch zaghaft, unsicher gar, ein vorsichtiges Tasten auf vorgegebenen Wegen. Die Straßen sind asphaltiert, die Gassen von Mauern gesäumt, dekorative Elemente aus Stahl oder Beton verleihen selbst kleinen Plätzen eine gewisse Struktur und Ordnung. Hin und wieder kommen ihre Füße von der Spur ab, doch sie korrigiert derartige Abweichungen rasch, erst recht, wenn sie darauf hingewiesen wird, was meistens der Fall ist. Sie folgt den Rufen, sie hört auf die Stimmen, die sich wie unsichtbare Führungslinien vor ihr entfalten. Die Stimmen werden lauter, und allmählich geht sie schneller, sie blickt links, sie blickt rechts, sie blickt nach vorne, und sie liest alles, was die Wegweiser erzählen. Vertrau deinen Instinkten, steht auf einem Metallschild. Vertrau niemandem, fordert ein Aufkleber an der Wand. Träume nicht dein Leben; lebe deinen Traum, zitiert eine Postkarte, die einen Himmel zeigt. Folge deinem Herzen! befiehlt ein Werbeplakat. Ihr Atem beschleunigt sich, immer wieder sieht sie sich um, ihr Gang wird hastig, vorübergehend ungelenk. Das Rufen wird zum Rauschen, die Stimmen vermengen sich zu einem dichten Gewirr. Kämpfe! Und glaub an dich! Und verlier das Ziel nie aus den Augen! Und gib jedem Tag die Chance, der beste deines Lebens zu sein! Und gib niemals auf! Die Worte werden zum Sturm, drängend und unentrinnbar, alles prasselt nieder und brennt sich ein, alles dreht sich, alles dröhnt. Sie beginnt zu laufen, zu rennen, immer schneller, das Blut pocht in den Schläfen, da sind Messer in der Lunge. Vor ihren Augen bebt die Erde, der Himmel blinkt und flackert wie ein altes Fernsehgerät. Sie rennt weiter, immer weiter, dreht sich nicht um, bleibt nicht stehen, hastet voran, ohne Bewusstsein, ohne Ziel. Irgendwann brennen die Beinmuskeln, die Glieder werden taub, und sie bleibt stehen. Einen Moment lang raubt ihr eine ohnmächtige Angst beinahe den Atem, das Zittern scheint unerträglich. Doch dann kehrt das Spüren zurück, warm und weich, eine traumgleiche Stille breitet sich aus, wie eine weiße Decke, die sich über einen frierenden Körper legt. Während die Welt zum Schweigen findet, beginnt sie selbst zu reden, ganz leise, ganz für sich. Und mit jeder Silbe verliert ihre Stimme an Fremdheit und gewinnt an Kontur, die Worte werden fassbar und klar. Irgendwann, ohne Absicht, wird das Sprechen zum Singen. Sie hat das Lied noch nie gehört, aber sie kennt es genau, sie kennt die Melodie und kennt jeden Klang.

Mir scheint, sie hat das Lied ihres Lebens gefunden.
Sie ist dem Druck entflohen, der eigentlich Gutes wollte, aber zu viel Gutes in sich hineinzuschütten, heißt auch. sich zu überfordern und man/frau will gar nichts mehr hören, nur noch die Stille, weil sie wohltuend ist und nur sie noch die gehetzte Seele beruhigt…
Ein feiner Text, lieber Disputnik, einer, der richtig gut zeigt, daß auch ein Zuviel vom Guten, das von allen Seiten auf uns niederprasselt, das Falsche sein kann.
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Ja, liebe Bruni, es ist manchmal ein kurzer Weg vom Fordern zum Überfordern, vom Guten zum Zuviel-des-Guten. Und vielleicht braucht’s dann hin und wieder eine Flucht vor allem, um wieder zu sich selbst zu finden. Oder so. Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Das ist eine Deiner Geschichten, die in mir etwas freisetzt. Es gab schon mal eine, da hatte die Lady ein Gehörn auf dem Kopf und stand einfach nur herum. So lange, bis ein alter Mann kam und ihr eine Geschichte schenkte. Danach brauchte sie die Hörner nicht mehr.
Diese Geschichte ist eine zum Luftkriegen, zum Abbrennen von überschüssigen Gefühlen. Ich kenne das genau! Am Ende stehe ich müde gerannt. Weiß weswegen und stopfe mich mit Glückschemie voll wie andere Schoki futtern.
Ich mach sowas ganz selten, das hier:
http://karfunkelfee.blog.de/2008/04/09/beziehungslos-4021820/
Es ist so…ich kenn manche Deiner Prots. Sag der Dame einen lieben Gruß von mir✨
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Das ist schön. Einfach sehr schön und berührend. Vielen lieben Dank dir. Es freut mich ungemein. Und deinem Text schenke ich dann auch noch die gebührende Zeit. Weil es sich lohnt.
Herzlichen Dank nochmals und liebe Grüsse…
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Wow. Toller Text. Du hast da etwas eingefangen, so einen Moment der Wende, der schwer zu greifen ist. Gefällt mir gut!
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Freut mich sehr, dass dir der Text gefällt! Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte!
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Ziemlich gut find ich das. Sehr!
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Das freut mich. Sehr. Vielen lieben Dank!
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