Die Kulisse ist beeindruckend und beängstigend zugleich. Schauplatz ist eine kleine Stadt in Afghanistan oder Irak oder Syrien, man ist da nicht kleinlich. Im Hintergrund ragen graue Betonruinen in den gelblich-grauen Himmel. Im Vordergrund türmen sich derweil Schutt und Geröll. Staub und Sand und Rauch vermengen sich mit der heißen Luft. Man hört Rufe, einige Schüsse, irgendwo einen dumpfen Knall. Dann tritt er auf. Chuck Norris. Er trägt eine abgewetzte Jeans und schwere Stiefel. Er trägt ein schmutziges Unterhemd und ein Maschinengewehr. Sein Gesichtsausdruck ist undefinierbar und grimmig wie immer. Er schaut sich um, spuckt auf den kargen Boden. Dann läuft er los, lässt sein Maschinengewehr sprechen, während die Musik anschwillt. Natürlich tötet er die Bösen. Natürlich rettet er die Guten. Er ist Chuck Norris.
Später sitzt er auf einen umgestürzten Betonpfeiler und blickt unvermindert grimmig. Ein kleines Mädchen tritt zu ihm hin, schenkt ihm eine Art Gemüse oder Frucht und sagt in gebrochenem Englisch Thank you, Mister. Chuck Norris nickt und grummelt etwas, dann beginnt sein Gesicht merkwürdig zu zucken. Vielleicht versucht er zu lächeln, man weiß das bei ihm nicht so genau. Das Mädchen, es heißt Sadiye, es ist neun Jahre alt und zählt zu den wenigen Einheimischen, die im Film mitspielen. Sadiye gefällt das. Die Dreharbeiten sind ein Abenteuer, ein Lichtblick in den grauen Tagen.
Einige Jahre später muss Sadiye flüchten, weil ihr Dorf erneut angegriffen wird. Sie versteht nicht genau, warum es geschieht, sie weiß auch nicht, wohin ihr kleiner Bruder gegangen ist, jedenfalls ist er nicht mehr da. Während sie mit ihrer Familie in einer sternenklaren Nacht über eine Landstraße läuft, denkt sie an Chuck Norris. Er könnte sie doch einfach retten, findet sie. Er müsste nur herkommen, mit seinen abgewetzten Jeans und seinen schweren Stiefeln, mit seinem schmutzigen Unterhemd und seinem Maschinengewehr. Doch Chuck Norris hat gerade keine Zeit für Sadiye.
In einem Interview mit einer Filmzeitschrift spricht er über den Konflikt in Sadiyes Heimatland. Natürlich befürworte er die Angriffe. Man müsse Härte zeigen, findet er. Eine andere Sprache würden die dort unten sowieso nicht verstehen. Sadiye bekommt von den Worten von Chuck Norris nichts mit, denn eben, sie läuft gerade über eine Landstraße und muss aufpassen, dass sie nicht entdeckt wird.
Ein weiteres Jahrzehnt später hat Sadiye eine neue Bleibe gefunden, sich eine bescheidene Existenz aufbauen können. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder, sie sind zwei und vier Jahre alt. Sadiye ist skeptisch und optimistisch zugleich, sie möchte studieren, möchte ein lebenswertes Dasein für sich und ihre Familie. Doch als der schwelende Konflikt in der Region, in welcher sie wohnt, sich zum Bürgerkrieg entwickelt, muss Sadiye mit ihrer Familie flüchten, ein weiteres Mal.
Chuck Norris findet derweil, man müsse die Rebellen in der Krisenregion bewaffnen, man sollte gezielte Angriffe fliegen und im schlimmsten Fall sogar Bodentruppen einsetzen. Als man ihn fragt, welche Rebellengruppen er in erster Linie bewaffnen würde, stammelt er etwas und zuckt dann mit seinen breiten Schultern.
Als Sadiye mit ihrer Familie nach langen Wochen endliche Europa erreicht, wird die Gruppe, mit welcher sie und ihre Familie unterwegs sind, von einigen wütenden Männern bei einem Zaun aufgehalten. Sie brüllen, schwenken Baseballschläger und Waffen. Einer brüllt am lautesten. Er sieht genau so aus wie Chuck Norris, findet Sadiye. Natürlich ist er es nicht, er kann es nicht sein, das weiß Sadiye. Dann denkt sie daran, wie es wäre, wenn Chuck Norris sie alle retten würde. Er müsste nur herkommen, mit seinen abgewetzten Jeans und seinen schweren Stiefeln, mit seinem schmutzigen Unterhemd und seinem Maschinengewehr. Doch Chuck Norris hat gerade keine Zeit für Sadiye.

Toll umgesetzt, diese ewige Sehnsucht nach dem allmächtigen Retter im Kampf gegen das Böse. Doch die schäbige Aufmachung des Retters zeigt bereits die Ambivalenz: wo ist die Grenze zwischen gut und böse, wenn jeder nur an sein eigenes Glück denkt?
Spannende Anregung! Danke!
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Ja, die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen ist wohl ziemlich beweglich… Vielen Dank dir fürs Lesen und Anregenlassen und für deine Worte…
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Bin gerade sprachlos gerührt. Es ist faszinierend, wie es dir gelingt, ein so furchtbares Dunkel mit Licht zu füllen. Danke dafür.
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Ich habe zu danken, fürs Lesen, für die sprachlose Rührung und für deine Worte… Herzliche Grüsse…
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Was für ein Text, lieber Disputnik und was für eine Wahrheit.
Wie gut hast Du in Worte gefasst, was zu denken schon schwer genug ist.
Bei einem Mal Denken sollte es nicht bleiben u. ein einziger halbinformierter Auftritt rettet nichts oder vielleicht doch EINE Seele, weil sie danach nie mehr die Hoffnung auf Wunder verliert…
LG von Bruni, sehr schluckend
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, für deine Worte, für dein Mitfühlen und das Zulassen des merkwürdigen Gefühls im Hals… Liebe Grüsse!
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Welch guter Text. So ist es wohl. In unglaublich hoher Anzahl. Die Dramatik unserer Zeit. Manchmal lähmt das Unfassbare derzeit alles…
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Ja, dramatisch ist es durchaus, vieles ist unfassbar, aber lähmen sollte es irgendwie nicht, auch wenn es wohl häufig tut… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte.
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Ich weiß.. sollte es nicht. Tut es nicht den ganzen Tag, aber immer mal wieder zwischen durch. Denn, wie kann ich meinen Kindern Grausamkeiten untersagen, wenn sie tagtäglich vorgelebt werden im Gro. Ist natürlich nur eine Metapher. Aber lässt die Lähmung vielleicht verstehen. Und jetzt ist die Starre auch schon wieder weg 😉
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Ja, ich kenn sie durchaus, die Lähmung. Auch die blöde Ignoranz manchmal, das Schulterzucken… Umso besser, wenn die Starre immer mal wieder verschwindet… Nochmals lieben Dank dir…
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