Am Ende eines langen Tages kommt sie endlich bei sich selbst an; ein Moment des Innehaltens nach all dem Tosen und Toben. Da war zu viel Lärm, zu viel Wind und Wirbel, zu viel Trubel und Tumult, zu viel Tempo. Sie hat zu viel von jenem Ballast verzehrt, der übersättigt, aber niemals satt macht. Sie atmet ein, atmet aus, atmet achtsam und bewusst, zum ersten Mal an diesem langen Tag.
Sie kommt endlich bei sich selbst an, hier vor diesem alten Spiegel. Sie hat sich die ganze Zeit nur mitgeschleppt und mitgezerrt, als wäre etwas an ihr losgelöst vom Ich; sie dehnte sich selbst wie einen dieser rosaroten Kaugummis und hat nun einen merkwürdigen Geschmack im Mund. Sie greift sich an die Schultern, sucht die schmerzenden Stellen, aber findet nur die übliche Taubheit. Sie lässt die Hände über den Oberkörper gleiten, doch was sie berührt, bleibt fremd.
Endlich kommt sie bei sich selbst an, am Ende eines langen Tages, endlich hat sie Gelegenheit, sich zu begegnen, in diesem Raum voller Ruhe, voller Sicherheit, ein Raum, der nur ihr gehört, den nur sie bewohnt und mit Fleisch und Blut versorgt. Und eine Sekunde lang verspürt sie die ungestüme Vorfreude auf die Begegnung mit sich selbst. Doch nachdem diese Sekunde verstrichen ist, bleibt nur Ernüchterung zurück.
Am Ende eines langen Tages kommt sie endlich bei sich selbst an; und trotzdem findet sie nichts und niemanden, keine Menschenseele, sie bleibt allein in diesem Raum. Sie kratzt mit Fingernägeln an einem Ellenbogen. Sie kneift eine Hautfalte an einem Bauch. Sie streift eine Haarsträhne aus einem Gesicht und wartet. Dann fällt die Haarsträhne wieder zurück in das Gesicht.

Das Problem unserer Zeit. Der Mensch nicht mehr fähig sich selbst zu spüren.
Manche bemerken den Mangel sogar noch.
Durchaus könnte es so einfach sein.
Die künstlich geschaffenen Hüllen ablegen und endlich die Leere füllen.
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Das Bemerken kann vielleicht ein Anfang sein, ein Ansatzpunkt. Einfach dürfte es selten sein, aber möglich womöglich doch…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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Faszinierend beschrieben, wie manchmal ein Wunsch nach einem Gefühl da ist, der sich einfach nicht erfüllt. Zeit und Bereitschaft reichen leider nicht immer. Danke für dieses sprachliche Bild.
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Ich habe zu danken! Fürs Lesen und Anschauen des sprachlichen Bildes und für deine Worte!
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„Sie hat sich mitgeschleppt…“ ist eine grandiose Formulierung. Kennt eigentlich jeder, aber wer kommt schon drauf, es auch aufzuschreiben?!
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Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte. Freut mich sehr, dass dir besagtes Wortgebilde gefällt…
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Super eingefangen, diese traurig einsame Befindlichkeit. Es ist die Tragik unsere so selbst-versessenen Zeit: wirklich bei mir ankommen tu ich wohl nur, wenn ich mich in den Augen eines anderen spiegle.
Ich mag diese fast gedichtartige Form der Prosa.
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In den Augen eines Anderen zu spiegeln kann ja auch durchaus ein sehr schönes Ankommen (bei sich oder vor allem im Jetzt) sein… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken!
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Es ist immer wieder faszinierend, wie genau Du es auf den Punkt triffst. Ein Zustand, der mir sehr bekannt ist und sich auch (noch) nicht wirklich abschütteln lässt. Danke für diese Worte.
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Ich hoffe, das Abschütteln klappt irgendwannbald doch noch… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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‚Zu wissen wer man mal war‘, auch das schon viel wert…
Manchmal erschrecken mich Deine Geschichten richtig…
Sehr gern gelesen.
Wie immer
Liebe Grüße✨
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Ja, fürwahr… Und wenn sie erschrecken und trotzdem gern gelesen werden, mag ich das sehr. Vielen lieben Dank dir und liebe Grüsse zurück…
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Findet man sich dann nicht, nach einem solchen Tag, sieht es schlecht aus.
Hat man die Zeit, die Ruhe, die Muße, sich selbst zu erkennen, noch zu wissen,
daß man immer noch die ist, die man mal war, dann kann der Tag verkraftet werden.
Kämen nur noch solche Tage, dann wäre es besser, sich ein Versteck zu suchen, um ihnen zu entgehen, weil man sonst einen großen Teil der eigenen Persönlichkeit verlieren würde…
Ein Nichts bliebe zurück.
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Der Ausdruck des Sich-selbst-Findens ist wohl ziemlich überstrapaziert, aber wertvoll ist es dennoch, sich da und zugegen zu wissen, irgendwie… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Überlegungen und Worte, liebe Bruni…
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Wenn man sich selbst kennt, weiß, wer man ist, dann ist alles gut und richtig, lieber Disputnik. Manchmal erkennt man, daß man nicht so ist, wie man dachte, dann muß man ein Stück des eigenen Ichs zurechtrücken, u. so kann es immer wieder wieder geschehen, das Korrigieren des Ichs, damit es stimmig ist.
Ich denke, es gehört auch dazu. daß man sich mal suchen muß *g*
Oft findet man sich auch in der falschen Schublade…
Mit hilft es sehr zu wissen, wer ich bin u. wenn mein Bild von mir falsch sein sollte, was durchaus sein kann, dann habe ich mich wenigstens bemüht…
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Du malst in deinen Worten grad ein paar neue Bilder, vielen Dank allein dafür! Ja, manchmal muss man sich oder Teiles des Ichs zurechtrücken, doch so einfach wie bei einer Haarsträhne funktioniert das nur selten…
„Oftmals findet man sich in der falschen Schublade.“ Den Gedanken lass ich mal setzen. Und wünsch dir alles Liebe…
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Ich kenne solche Tage. Zum Glück waren sie in meinem Leben die große Ausnahme.
Wie du diese tieftraurige, trübsinnige Stimmung beschreibst… Das ist einfach genial. Vielen Dank dafür.
Lieben Gruß
Camilla
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Ich danke dir! Und hoffe, dass solche Tage weiterhin Ausnahme bleiben oder ausbleiben. Liebe Grüsse zurück..
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