Sie kann nicht schlafen, wie so oft in letzter Zeit. Ein kühler Wind weht durch das Kippfenster ins Innere des Schlafzimmers, und als sie die Bettdecke zurückschlägt und aufsteht, zittert ihr Körper kurz. Sie geht nach unten in die Küche, schaltet die kleine Lampe ein, gießt ein wenig Wein in eine Tasse und setzt sich an den Tisch in der Ecke.
Hin und wieder dringt ein Knacken aus dem Gebälk, ansonsten hört sie nur ihre Gedanken, die müde durch den Kopf taumeln. Plötzlich bemerkt sie eine Bewegung im Augenwinkel. Sie wendet ihren Kopf und entdeckt eine kleine Maus, die nun wieder reglos an der Wand steht und direkt zu ihr blickt. Sie erschrickt zunächst, doch dann mustert sie die Maus, und allmählich wird sie ruhig, so ruhig wie schon lange nicht mehr.
Schon ihre Mutter hat mit allen Tieren geredet, und immerhin dies hat sie ihr hinterlassen. Zuerst sind es nur kurze Wortfetzen, banale Lautmalereien, eine simplifizierte Sprache, wie immer, wenn sie mit Tieren spricht. Irgendwann jedoch bemerkt sie, wie die Worte an Gehalt gewinnen. Sie formt Sätze und beginnt zu erzählen. Sie berichtet von prägenden und einschneidenden Episoden, wühlt sich durch Erinnerungen und entdeckt scheinbar Vergessenes. Natürlich weiß sie, dass die Maus nichts versteht, aber immerhin bleibt sie da, verharrt ruhig an der Wand und lauscht, als würde sie sich interessieren. Sie redet und redet, atmet ein und aus, die Schultern werden leichter, die Muskeln im Nacken werden weicher. Und obwohl sich beide kaum bewegen, scheint die Entfernung zwischen der Maus und der Frau kleiner zu werden.
Irgendwann legt die Maus den Kopf ein wenig schräg und läuft eilig davon, verschwindet in einer kleinen Spalte unter einem Küchenschrank. Sie trinkt noch einen Schluck Wein, steht auf und geht nach oben, legt sich ins Bett und schläft ein.
Am nächsten Tag wandern ihre Gedanken immer wieder zur Maus, und jedes Mal ertappt sie sich bei einem sanften Lächeln. Als ihr Mann am Abend nach Hause kommt und sich an den Tisch setzt, um einen Prospekt zu studieren, der in der Post war, erzählt sie ihm von der Maus und der nächtlichen Begegnung. Er zieht die Nase hoch, blättert einige Seiten um, doch er hört wohl nicht wirklich zu, und er sieht auch das Leuchten in ihren Augen nicht. Schließlich wirft er den Prospekt auf den Tisch, blickt kurz zum Küchenschrank und zuckt mit den Schultern. Ich kaufe morgen eine Mausefalle, sagt er, steht auf und geht zur Toilette. Sie bleibt starr in der stillen Küche zurück, blickt auf den Boden. Ein Ziehen zwischen den Schulterblättern kündigt die schmerzhaften Verspannungen an.

Ein schönes Bild einer traurigen Beziehung. Kompliment!
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und fürs Kompliment!
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Knüppeldick, das von dem Mann mit der Falle…
…er kann die Augen seiner Frau wohl nicht mehr „lesen“,
dabei ist das doch etwas soooo schööööönes!
Ein zauberhafter Text, lieber Disputnik…
herzliche Morgengrüße vom Finbar
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Vielleicht braucht’s ja auch in Beziehungen mal eine Lesebrille, irgendwann nach der rosaroten… Herzlichen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, lieber Finbar, und beste Grüsse zurück…
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Oh, das geht mir ja durch und durch … Dass einer, der einem eigentlich nah sein könnte/sollte, das Leuchten in Augen nicht sieht und so wenig hört, was man sagt, das ist bitter, traurig und mahnt dazu, sich um sich zu kümmern und neue Wege zu suchen ….
Aber nun gut.
Danke für deine Geschichte. LG aus HH
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Ja, ist wohl wertvoll und wichtig, nicht zu vergessen, sich in die Augen zu schauen… Danke dir fürs Lesen und Hinschauen und für deine Worte…
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