Er besucht seinen Vater im Krankenhaus. Eine Hüftoperation, nicht bedrohlich, aber notwendig. Man werde halt älter, sagt der Vater und wirkt dabei jünger als noch einige Monate zuvor. Dann erzählt der Vater von jenem Mann, mit dem er in den letzten Tagen das Krankenhauszimmer geteilt hat. Der ist vorhin gegangen, musste direkt weiter in die Psychiatrie. Er hat versucht, sich umzubringen, hat Tabletten geschluckt und sich an einem Strick an einen Holzbalken gehängt. Aber die Tabletten waren zu schwach und der Balken war zu dünn, und als man ihn gefunden hat, ist er wütend geworden, dass er noch immer in diesem Leben hockt und nicht schon verschwunden ist. Der Vater hustet, dann redet er weiter. Ich habe ihn gefragt, warum er es getan hat. Er hat gesagt, er fühle sich unerwünscht. Unerwünscht! Ha! Wenn das so ist, hätte ich mich schon hundert Mal umbringen müssen! Der Vater lacht, es klingt ein wenig röchelnd. Dann wischt er sich mit dem Handrücken ein wenig Speichel aus dem Mundwinkel und starrt aus dem Fenster.
Zurück in der kleinen Wohnung liegt der Staub auf den wenigen Möbeln, klammert sich an die Blätter der Zimmerpflanzen auf dem Fenstersims und in den Ecken. Die vierzig Quadratmeter sind seit einem halben Jahr sein Domizil und noch immer weit davon entfernt, ein Zuhause zu sein. Er hat alte Filmplakate an die Wände gehängt. Konservierte Zeit, luftdicht verschlossen. Er betrachtet das Plakat zum Film Frühstück bei Tiffany und erinnert sich daran, wie er mit seiner Frau in einer Spezialvorstellung des Films in einem kleinen Programmkino saß. In seinem Kopf hört er Moon River. Seine Frau wohnt mittlerweile in einer anderen Stadt, zusammen mit der gemeinsamen Tochter. Er war noch nie da, wurde noch nie eingeladen und wäre wohl auch nicht willkommen. Die Scheidung läuft, und er weiß noch immer nicht, ob er deswegen erleichtert oder traurig sein soll. Er zündet sich eine Zigarette an und schaltet das Radio ein, damit Moon River übertönt wird.
Später steht er wieder vor dem Plakat, betrachtet Audrey Hepburn in ihrem schwarzen Kleid. Seine Augenlider zucken ein wenig, und dann, vollkommen stumm und beinahe mechanisch, reißt er das Plakat von der Wand, lässt es zu Boden fallen, hebt es wieder auf und zerknüllt es. Er blickt an die Zimmerdecke, danach zur kleinen Uhr an der Wand. Früher war das Ticken nicht so laut. Er lacht, es klingt ein wenig röchelnd. Dann wischt er sich mit dem Handrücken ein wenig Speichel aus dem Mundwinkel und starrt aus dem Fenster.

Lebenswille und Lebensmüdigkeit: zwei extreme Gefühle
Der eine will noch; der andere gibt vorzeitig auf.
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Ja, genau… Vielen herzlichen Dank dir fürs Hinschauen und Lesen und für deine Gedanken…
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