Er sagt den Leuten, sie sollen ihn einfach Saba nennen. Eigentlich heißt er Sabahudin, doch er will niemandem das Aussprechen des ganzen Namens aufzwingen, er will auch keine Ursprünge erläutern; überhaupt will er möglichst nicht zur Last fallen.
Momo ist einer von denen, die man die Jungen nennt, und eigentlich kann er diesbezüglich kaum widersprechen. Er ist zwanzig Jahre alt und damit zweifellos jung, zumindest in älteren Augen. In seinen eigenen Augen ist er vielleicht nicht älter als die Jungen, aber dennoch keiner von ihnen.
Pepe hieß einmal Peter, hatte Frau und Kinder, ein geregeltes Leben, doch das ging vorbei. Alles geht wohl irgendwann vorbei, bei ihm wurde es ungeregelt, und irgendwann wollte er fortan Pepe genannt werden und brauchte schon am Morgen einen Schnaps.
Saba kam in einem kleinen Dorf im Norden Bosniens zur Welt, doch er war schon lange nicht mehr dort. Es ist weit weg, nicht nur geografisch, und trotzdem würde er gerne häufiger hinfahren, aber er hat zu wenig Zeit und wahrscheinlich auch ein wenig Angst.
Momo betrachtet die Welt, seine eigene und die der anderen, und alles, was er sieht und spürt, dringt in ihn ein und muss wohl irgendwie wieder hinaus. Vielleicht drückt er sich deshalb in künstlerischen Formen und Farben aus.
Fast jeden Tag geht Pepe in den kleinen Laden im Quartier. Er kramt die Münzen aus der Hosentasche, kauft sich Brot und Salami und Käse, wenn er Hunger hat, und er kauft sich Bier, denn Durst hat er immer.
Saba blickt auf die breite Gasse, auf die Passanten, die an seinem Laden vorübergehen. Manche von ihnen kennt er, man grüßt sich freundlich, und dann lächelt Saba. Er mag diese Momente des Erkennens.
Seine Eltern nennen ihn nach wie vor Moritz, aber die meisten anderen sehen nur noch Momo, den Künstler. Manchmal fragt er sich, ob er selbst zum Kunstobjekt geworden ist, ob er noch echt ist. Doch eigentlich mag er dieses Dasein, er kann sich vor und hinter den Fassaden erkennen.
Ihm ist egal, was die Leute denken, aber trotzdem bemüht sich Pepe, eine gewisse Haltung zu bewahren, doch er torkelt und wankt und wackelt, geht viel zu schnell, bleibt dann abrupt stehen und stolpert wieder weiter.
Saba weiß, dass er eigentlich nicht hierher gehört, in dieses graue Quartier am Rande der Gesellschaft, aber er weiß auch, dass niemand hierher gehört, auch die Trinker und Prostituierten und Armen nicht, aber sie sind nun mal hier, und manchmal strahlt das Grau in unzähligen Farben.
Momo könnte im hübschen Vororthäuschen seiner Eltern wohnen, könnte eine Berufsausbildung absolvieren, könnte ein normales Leben führen, doch er schlägt dem Konjunktiv und der Normalität ein Schnippchen, zuckt mit den Schultern, betrachtet weiter die Welt, atmet ein und aus.
Er hat mehr eingekauft als sonst, die Papiertüte ist schwer, der Kopf ebenfalls, und dann, nach einem heftigen Torkeln, fällt Pepe hin, die Papiertüte reißt, die Einkäufe rollen über den Asphalt. Pepe versucht, wieder aufzustehen, doch die Beine wollen ihm nicht gehorchen.
Saba läuft aus dem Laden und hin zu Pepe, redet ihn vorsichtig an, legt ihm die Hand auf die Schulter und fragt ihn, ob er sich verletzt habe. Pepe schüttelt den Kopf, und Saba will wissen, ob er aufstehen könne.
Momo kommt hinzu, legt seine Hand auf Pepes freie Schulter, und gemeinsam helfen Saba und Momo dem Gestürzten auf die Beine, setzen ihn auf die Mauer neben dem Bürgersteig. Momo sammelt die Einkäufe zusammen und legt sie neben Pepe auf die Mauer.
Pepe atmet schwer, stützt die Hände auf die Knie, und während Momo ruhig mit ihm spricht, geht Saba zurück in seinen Laden, kommt mit einer Tasche aus dickem Plastik wieder hinaus und beginnt, die Einkäufe einzuräumen. Pepe blickt ihn an, mit zitternden Lippen.
Und dann stehen sie da, Saba und Momo und Pepe, auf dem Bürgersteig, inmitten von Leuten, die nicht hierher gehören, und das Grau, das sie umgibt, glitzert merkwürdig. Ihr gehört zu den Guten, sagt Pepe, und dann geht er los. Saba und Momo begleiten ihn noch einige Meter, klopfen ihm auf die Schulter und wünschen ihm ein gutes Heimkommen.
Sie blicken ihm nach, wie er mit überraschend sicheren Schritten fortgeht. Dann verabschieden sie sich, Saba kehrt in seinen Laden zurück. Momo bleibt noch ein wenig stehen, sieht sich um. Er weiß nicht, ob Saba und Pepe im gleichen Moment lächeln wie er. Aber er mag die Vorstellung, dass sie es tun.

sehr schöner Text
LikeLike
Vielen lieben Dank; das freut mich sehr…
LikeGefällt 1 Person