Es ist noch dunkel, als sie beginnt, das Buch zu lesen, doch schon bald wird es hell, das Buch ist eine Erleuchtung und rechtfertigt jedes pathetische Attribut. Zur Mittagszeit ist sie am Ende angelangt und hat Tränen in den Augen, so gut ist das Buch, so einnehmend, so ergreifend. Sie liest es noch einmal, ohne Unterbrechung, sie lässt das Telefon klingeln, sie isst und trinkt nichts, raucht nur hin und wieder eine Zigarette. Nachdem sie zum zweiten Mal die letzte Seite erreicht, klappt sie das Buch zu, legt es in ihren Schoss und klammert sich daran wie an einen Rettungsring im tosenden Meer.
Es lag einfach auf dem Küchentisch, als sie um fünf Uhr erwacht und noch leicht benommen zur Kaffeemaschine geschlurft war. Weder Autor noch Titel des Buches sind aufgedruckt, die Geschichte beginnt auf der ersten Innenseite, da sind keine Kapitel, keine Seitenzahlen, und auf der letzten Seite hören die Worte auf, aber klingen dennoch weiter, hallen nach. Sie weiß nicht, wer das Buch auf ihren Tisch gelegt hat, und da ist durchaus eine gewisse Mulmigkeit, schließlich wohnt sie alleine. Doch die keimenden Angstgefühle werden übertüncht und übertönt von der berauschenden Wirkung der Lektüre. Das Buch in ihrem Schoss, es ist das beste Buch der Welt, und sie fühlt sich reicher und wohler, seit sie es gelesen hat, erfüllt und warm, irgendwie.
Das Buch, es behandelt das Wesen des Seins, den Menschen, das Leben, die Liebe, die Zeit. Es geht um alles und es geht um nichts, jeder Satz erzählt eine Geschichte und ist dennoch nur ein kleines Fragment eines großen Ganzen. Das Buch berührt sie, wo noch kein Buch sie berührte, und sie ist überzeugt, dass es allen so gehen würde. Sie ruft eine alte Freundin an. Die Freundin ist längst tot, doch sie weiß ihre Nummer noch, und sie erzählt ihr vom Buch, zitiert einige Passagen, und am Ende weint sie erneut, und auch die Freundin weint. Sie verspricht, ihr das Buch auszuleihen, aber nach dem Auflegen weiß sie, dass sie gelogen hat.
Während das Licht des Tages allmählich schwindet, beginnt sie erneut zu lesen, zum dritten Mal. Irgendwann werden die Lider schwer, irgendwann fallen sie zu, irgendwann schläft sie ein. Als sie am nächsten Morgen erwacht, greifen die Finger ins Leere, das Buch ist verschwunden, ohne Hinweis auf seinen Verbleib. Sie sitzt mit hängenden Schultern in der Stille, draußen vor dem Fenster wird es kaum richtig hell. Sie hat wundervolle Bücher gelesen. Doch sie ahnt, dass da noch viel wundervollere Bücher sind, die sie nicht gelesen hat. Und sie weiß nicht, ob das erfreulich ist. Oder schrecklich traurig.

Keep goin‘!! Fg
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Werde ich. Lieben Dank!
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Ein toller Text, lieber Disputnik, einer, der etwas anrührt und weich und leicht macht.
Ein Geheimis steckt in Deinem Text, eines, das mich freudig lächeln läßt, denn er handelt von einem Wunder, einem wirklichen echten Wunder und wir brauchten noch viel mehr davon…
Nur schade, daß das Buch verschwunden ist, ohne ihr eine Nachricht zu hinterlassen, daß es wirklich da war, daß sie es nicht nur geträumt hatte, denn das würde mich jetzt enttäuschen *lächel*
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Doch vielleicht bleibt auch etwas zurück, etwas Greifbares, wenn das Buch tatsächlich nicht „real“ war… Vielen Dank dir, liebe Bruni, für dein Lesen und für deine Gedanken, und egal, welches Geheimnis darin steckt, es freut mich, dass dir das Geschriebene gefällt…
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