Es waren nur einige Sekunden, vielleicht eine Minute, zumindest in realer Zeit, in banaler Zeit. Doch das, was sich in diesen Sekunden ereignete, war nicht banal. Das war etwas anderes.
Sie war die Stieftochter seiner Tante und damals wohl mindestens doppelt so alt wie er. Wann sie in das Haus seiner Eltern gekommen und wie lange sie geblieben war, weiß er nicht mehr, an ihre Stimme kann er sich ebenso wenig erinnern wie an ihre Kleider. Doch wenn er zeichnerisches Talent hätte, er könnte die Geschichte ihres Körpers und ihres Gesichts mit sicheren Strichen und klaren Linien zu Papier bringen und würde kein Detail auslassen.
Susanna war ihm vorgestellt worden, als wäre sie ein vom Aussterben bedrohtes Tier. Man sprach von schwierigen Situationen, von Kraft und Ruhe, von Dingen, die er nicht verstehen konnte. Alle setzten ihr ernsthaftes Erwachsenengesicht auf, die Tante weinte, aber sie weinte häufig, auch ohne ersichtlichen Grund. Nur Susanna lächelte, versuchte es jedenfalls. Es war das schönste und traurigste Lächeln, das er je gesehen hatte.
Seine Mutter hatte für Susanna das Gästezimmer mit dem kleinen Fenster an der Seite des großen Hauses hergerichtet, und die meiste Zeit hielt sich die junge Frau in der Enge dieses Zimmers auf, schlief häufig und lange. Manchmal sprach sie mit gedämpfter Stimme mit seiner Mutter oder seiner Tante, manchmal saß sie auch einfach nur am Küchentisch, die Hände um eine Tasse geschlungen, in welcher der Kaffee allmählich erkaltete, und starrte aus dem Fenster auf die Sträucher hinter dem Haus. Er hätte sie gerne umarmen, sie zum Lachen oder Leuchten bringen wollen. Aber er war viel zu schüchtern, viel zu unsicher, viel zu jung.
Eines Abends, es war bereits dunkel geworden, war er auf dem Weg in sein Zimmer. Die Lampen im Korridor brannten nicht, dennoch ließ er sie ausgeschaltet, denn aus dem Bad, das etwa in der Mitte des langen Ganges lag, drang genügend Licht. Er wusste nicht, wer sich im Bad befand, das Wasser der Dusche war soeben abgedreht worden. Möglichst unauffällig schlich an der halb geöffneten Tür vorbei und spähte hinein. Nach einem kurzen Zucken erstarrte er und blieb in der kühlen Dunkelheit des Korridors reglos stehen. Im hell erleuchteten Bad mit seinen kahlen Kachelwänden trat Susanna aus der Dusche und begann, sich langsam abzutrocknen. Bei ihm glich das Abtrocknen jeweils einem Schrubben, hastig und grob scheuerte er über seinen kindlichen Leib. Susanna hingegen tupfte. Ganz sanft und achtsam befreite sie ihre Haut von den Wassertropfen, die im Licht der Badezimmerlampe glitzerten. Ihre Berührungen waren so vorsichtig und zart, als wäre ihr Körper nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus dünnem Papier. Während sie mit dem weichen grünen Frotteetuch ihre Brüste trocknete, ihren Bauch und ihre Schenkel, stand er noch immer im Korridor, starrte hinein und wagte nicht, sich zu bewegen oder zu atmen.
Er war kein sonderlich aufmerksamer Junge, bekundete Mühe, sich zu konzentrieren, war flatterig, fahrig und schnell abgelenkt. Doch in jenem Moment schien er alles erfassen zu können, rasch und ohne nachzudenken. Das blonde Haar, das sich an den Ohren ein wenig wellte und in einzelnen Strähnen am Hals klebte. Die beinahe mechanischen Bewegungen, mit welchen Susanna eben dieses Haar in ein Frotteetuch einwickelte. Die vollen, runden Lippen, die in unregelmäßigen Abständen leicht zuckten und ungemein weich wirkten, so weich, dass er gerne mit dem Finger draufgedrückt hätte. Die Brüste, die so fest und straff und seltsam robust schienen, ganz anders als bei seiner Mutter. Die Finger, die so ruhig und zärtlich über die Haut glitten, als wäre dieses Streicheln alles, was zählt.
Während er sie beobachtete, spürte er ein leichtes Ziehen unterhalb des Bauches. Es machte ihn wohl nervös, jedenfalls schob er einen Fuß unabsichtlich und ruckartig zurück, was die Dielen unter ihm mit einem lauten Knarren quittierten. Erschrocken fuhr er zusammen, erstarrte abermals und blickte angstvoll ins Bad zu Susanna. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, hob sie ihren Kopf, kniff ihre Augen leicht zusammen und blinzelte hinaus auf den dunklen Korridor. Ein unsicheres Lächeln schien ihr Gesicht zu erfassen. Mehr sah er nicht mehr, denn im nächsten Moment eilte er davon, mit einem Pochen an den Schläfen und im Hals, schlich möglichst rasch und möglichst leise bis zum Ende des Korridors und hinein in sein Zimmer. Vorsichtig schloss er die Tür ab, warf sich auf sein Bett und lauschte. Irgendwann hörte er ein Klappern im Bad, vielleicht die Haarbürste im Spiegelschrank. Dann war es wieder still, nur ein Rauschen in den Ohren blieb.
Irgendwann war Susanna weg, war aus dem Haus und seinen Tagen verschwunden. Trotzdem blieb sie da. Noch Jahre später stand Susanna in jenem Bad und trocknete sich tupfend ab, langsam und zärtlich, ihre weichen Lippen zuckten, ihr Blick war gesenkt. Hin und wieder versuchte er, ihre Rolle in seinen Gedanken auszubauen; nur zu gerne hätte er sie geküsst oder mit seiner Hand ihre Wange berührt, ihre Brüste gestreichelt oder den Duft ihrer Haut eingeatmet. Doch sie ließ ihn nicht. Sobald er ins Bad trat, löste sie sich auf, verflüchtigte sich. Und was er auch tat, er konnte sie nicht dazu bewegen, ihm durch die Tür auf den kühlen dunklen Korridor zu folgen.
Einmal erkundigte er sich bei seiner Mutter, ob sie wisse, wo Susanna sei und wie es ihr gehe. Mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht sah sie ihn an und fragte, weshalb ihn dies denn interessiere. Er zuckte mit den Schultern und winkte hastig ab, wechselte das Thema und verabschiedete sich möglichst bald. Er wollte Susanna nicht verlieren. Also blieb sie im Bad. Und tupfte.

Das nenne ich
Die zarteste Prosaverführung
Seit Einführung von
Buchstabendörfern,
Lieber Schreibfreund…
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Oh, vielen herzlichen Dank, lieber Finbar, freut mich sehr, dass auch du dich verführen liessest…
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Eine sehr schöne Geschichte!
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und deine Worte!
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eine feine und besondere Erinnerung festhalten, ist etwas Gutes und er tat sich Gutes, indem er sie bewahrte, diese Erinnerung, die durch Erzählen und zu genaues Wissen zertört würde…
Wieviele Erinnerungen an besondere Momente haben wir doch alle und hier ist es die Erinnerung an eine geheimnisvolle junge Frau, die die Fantasie eines Jungen sehr anregte…
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Ja, die Erinnerungen, sie sind doch auch da, um uns zu formen, zu prägen, bleiben stets ein Teil unserer Geschichte, und sie zu bewahren, es bedeutet wohl auch, uns selbst zu bewahren.
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken… Herzliche Grüsse…
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