Sie weiß nicht, wann und wie es angefangen hat. Wahrscheinlich war es nur ein kleines Verbiegen der Wahrheit, eine minimale Abwandlung, eine unbemerkte Abweichung zwischen Erlebtem und Erzähltem, ein Schlenker im Interpretationsspielraum. Eine mikroskopisch kleine Lüge, wohl nur eine Flunkerei, doch sie veränderte die Richtung, verändert den Lauf der Zeit, den Lauf der Dinge.
Zu Beginn hätte sie zweifellos einfach zurückkehren können, zurück auf den zuweilen holprigen, aber tugendhaften Pfad der Wahrheit. Ein wenig Beschämung, ein roter Kopf, ein temporär schlechtes Gewissen, mehr hätte sie nicht aufwenden müssen. Im Nachhinein ist das verschwindend wenig, kaum der Rede wert. Doch dieses Nachhinein ist manchmal ein erschreckend sinnloses Konstrukt.
Um die erste Lüge vor der Demaskierung zu bewahren, bedurfte es einer weiteren. Es war wiederum nur eine kleine Schwindelei, doch sie kam einem Einverständnis gleich, einer Bestätigung, der weitere folgten, folgen mussten. Immer wieder kam sie an jenen Punkt, an welchem sich ihre Täuschung, die sich immer höher türmte, nur durch eine weitere Ausflucht vor dem Einsturz bewahren ließ.
Virtuosität setzt häufig ein gewisses Talent voraus, bedarf aber vor allem des Lernens, der Übung. Sie wurde eine virtuose Lügnerin, eine Seiltänzerin über dem Abgrund, den nur sie selbst unter sich wusste. Die Angst vor dem Absturz war nicht zuletzt eine Angst vor dem Gesichtsverlust. Wobei sie nicht bemerkt hatte, dass sie wohl gar kein wirkliches Gesicht mehr hatte, das sie hätte verlieren können.
Auf einem Stapel liegt das Buch L’adversaire, in welchem der Autor Emmanuel Carrère die Geschichte von Jean-Claude Romand erzählt. Nach einer kleinen Lüge begann dieser, seine Familie und Freunde mit immer abenteuerlicheren Ausreden zu täuschen. Nach achtzehn Jahren drohte sein Betrug aufzufliegen, woraufhin Romand seine Frau, seine beiden Kinder und seine Eltern tötete. Irgendwann liest sie dieses Buch. Vielleicht. Doch es wird wohl nichts ändern.

Ich möchte nicht wissen, lieber Disputnik, wie viele Menschen täglich so sich durch den Tag lügen, schon so alltäglich lügen, dass sie es für Wahrheit halten und alle um sie herum auch…
und wenn dann der Lügendominoeffekt losgeht, dann ist das wie ein Schuss nach hinten! Dann ist die Hölle los!
Und diese Hölle kann dann auch zum Tode von Menschen führen, letztendlich nur, weil gerade mal EINES der schier unendlich vielen zu existieren scheinenden Lügengebäude einstürzte…
du schreibst oben in deinem Text sehr fein formuliert: „…eine Seiltänzerin über dem Abgrund, den nur sie selbst unter sich wusste. Die Angst vor dem Absturz war nicht …“
in meinem neusten Text über Motorradliebe geht es auch um Abgründe, die dich vielleicht interessieren könnten, lieber Schreibfreund…
liebe Abendgrüße vom Finbar
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Ich denke, sobald aus den Lügen eben ein Gebäude entsteht, wie du schön schreibst, und man es sich drin einrichtet, man drin wohnt, dann wird es schwierig. Es muss nicht unbedingt tödlich enden, doch in den seltensten Fällen endet es wohl schön und gut…
Vielen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und für deine Gedanken. Und jetzt widme ich mal deiner Motorradliebe…
Herzliche Grüsse zurück….
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Gefällt. Sehr. Feine Bilder und ein schönes Thema, finde ich.
Aber, psst… du weißt, dass ich nur kritisiere, wen ich absolut schätze .. das Ende hast du ein wenig abgefertigt. Ich glaube, da wäre Dir anstatt des letzten Satzes auch etwas Besseres eingefallen. Lösche das bitte gerne raus aus den Kommentaren, ich wollte das eigentlich nur Dir.. aber vielleicht ist das auch blöd von mir. Soll nicht blöd sein. Liebe Grüße!
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Es ist keineswegs blöd, liebe Candy, und der Antrag auf Löschung deines Kommentar ist abgelehnt… Danke für dein Lesen und für deine Worte, und ja, das Ende ist wohl kein richtiges. In einer früheren Fassung war der Text deutlich länger, die Geschichte ging noch weiter, aber irgendwie passte es nicht. Vielleicht mach ich mir nochmals Gedanken (obwohl ich im Nachbearbeiten von Texten nicht sonderlich gut bin)…
Eben, vielen Dank für deine Gedanken. Und liebe Grüsse zurück…
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Diese Seite mit deinen Texten ist mir nach wie die liebste, die ich lese. Und nach wie vor tut es mir leid, dass ich einfach nie etwas hinzuzufügen habe. Du schreibst zu gut, um wahr zu sein. So derart auf den Punkt, dass zustimmendes Schweigen alles ist, was bleibt. Aber Feedback ist wichtig, das weiß ich selbst. Deshalb mal wieder und stellvertretend für alle von mir unkommentierten Beiträge: ich lese dich und das verflucht gerne! Don’t stop!
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Ich freue mich sehr über zustimmendes Schweigen, auch über stillen oder artikulierten Widerspruch, einfach und sowieso übers Lesen… Vielen lieben Dank dir dafür!
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