Sie hat allmählich Muskelkater vom Schulterzucken. «Wir sollten darüber reden», sagt er und lässt im gereizt wirkenden Gesicht ein wenig Ermutigung aufleuchten. «Okay», erwidert sie. Und zuckt mit den Schultern, wie so oft. Denn sie weiß nicht, was es zu bereden gibt.
Womöglich stimmt das Klischee in der Regel. Frauen müssen über alles reden, Männer können oder wollen genau dies nicht. Doch bei ihnen beiden verhält es sich umgekehrt. Er findet selbst in winzigen Kieselsteinchen auf ihrem gemeinsamen Weg einen Anlass für eine ausführliche Diskussion, in den größeren Hindernissen sowieso. Sie hingegen möchte die kleinen Steine einfach zur Seite kicken und bei Felsbrocken notgedrungen einen Umweg machen. Vor allem möchte sie nicht über jede Kleinigkeit reden. Das bringe nichts, findet sie, man drehe sich ja doch nur im Kreis. Ihr wird schnell schwindlig. Trotzdem willigt sie meistens ein, wenn er eine Aussprache verlangt, obwohl sie bereits zu wissen glaubt, dass sich nichts ändern wird.
«Weißt du, was dein Problem ist?», fragt er. «Nein. Ich wusste nicht einmal, dass ich ein Problem habe», antwortet sie, mit einem rasch aufkeimenden Unterton der Gehässigkeit in der Stimme. «Dein Problem ist», schnaubt er, «dass du nie zuhörst, wenn ich rede. Du bejahst und verneinst, du nickst und schüttelst den Kopf, aber irgendwie prallt doch alles an dir ab. Verstehst du?» Sie nickt und bejaht. «Also stimmt es?» hakt er nach. Sie verneint und schüttelt den Kopf.
Er wühlt sich mit weit aufgerissenen Augen durch Berge aus Wörtern und Sätzen, als ginge es um sein Leben. Vielleicht tut es das auch, vielleicht tut es das immer. Sie hört zu und blickt zu Boden, das Muster im Parkett hilft beim Denken, doch es nützt nichts, der Kopf ist zu voll, die Gedankengänge sind verstopft. Ihr fehlen die Worte, die bei ihm scheinbar im Überfluss vorhanden sind. Er bleibt redselig, sie bleibt einsilbig, immer weiter, eine Stunde lang, dann geht ein Glas zu Bruch, und schließlich wirft er krachend die Tür ins Schloss.
Später malt sie ein Bild. Eine Weltkugel, darauf zwei Personen, eine am Südpol, die andere am Nordpol. Sie können sich nicht sehen, nicht hören, zu groß sind Erdkrümmung und Distanzen. Beiden ist fürchterlich kalt, sie sind einsam. Nach dem letzten Pinselstrich tritt sie einen Schritt zurück und betrachtet das Bild. Vor allem starrt sie auf die Region in der Mitte, auf den Äquator. Die dortigen Gebiete sind ungenau gezeichnet, ziemlich verschwommen, alles scheint vage und lediglich grob skizziert. Sie weiß nicht, wie es dort aussieht, am Äquator. Denn sie waren wohl beide noch nie da.

Dieser Text erschien als Kolumne zum Thema Kommunikation im L-Magazin, Ausgabe November 2014.
Lieber disputnik,
über die liebe karfunkelfee komme ich her und finde deinen Beitrag hier zum lesen schön *lächel*. Toll be- und geschrieben. Mir kam es beim Lesen nur so vor, als wenn du einen Mann beschriebst, der in meinem näheren Umfeld ebenso sämtliche großen und kleinen Steinchen be- ver- und auch zerredet, dass es eine Qual ist, ihm zuzuhören. Nein, nicht der meine, gottlob. Aber doch so nah, dass ich nicht immer Reißaus nehmen kann, wenn er wieder in Redelaune ist. Du kennst ihn aber nicht, diesen Mensch, oder? Dass es davon tatsächlich mehr als einen gibt, bereitet mir Unbehagen. Irgendwie 😉
Auf alle Fälle haben mir deine Zeilen gesagt, ich solle wieder kommen, um mehr zu lesen. So drücke ich dann einfach frech den „Ich folge dir“ Button, damit ich auch wieder hierher finde und wünsche dir zunächst einmal einen ruhigen und besinnlichen 1. Advent mit vielen Wohlfühlmomenten.
Liebe Grüße
Heike
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Liebe Heike, vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Folgen und für deine Zeilen…
Den besagten Menschen in deinem Umfeld kenne ich natürlich nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es von seiner Sorte (sofern sich Menschen derart einsortieren lassen) ziemlich viele geben dürfte…
Ich wünsche dir ebenfalls einen ruhigen und schönen 1. Advent und eine ebenso schöne Adventszeit…
Herzliche Grüsse zurück…
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Lieber Disputnik,
Das ist wieder eine von diesen Geschichten, die mich ins Weiterdenken brachten, diesen Prots nehme ich die Szene genauso ab, wie Du sie beschreibst, so plastisch und dreidimensional sind die Figuren aneinander lost in translation.
Ich hab verdichtet und zu Dir hinverlinkt, ohne vorher um Genehmigung bei Dir zu bitten.
Ich hoffe einfach, dass es okay ist…😊
Liebe Grüße von der
Karfunkelfee
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Du darfst immer, sehr gerne, es ist mir eine Ehre. Und dein Text, er ist wunderbar verdichtet und komprimiert, konzentriert… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, hier und dort.
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Danke…😊
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Am Äquator war ich noch nie. Aber hier ist es schön. Und nicht einsam. Die Kälte, die ist da; es ist schliesslich Ende November. Noch am Rande: deine Zeilen klingen hier irgendwie mehr als im Magazin…
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Ja, hier ist es schön, schöner als am Äquator, findich, trotz Novemberkälte. Und man kann sich ja seinen eigenen Äquator ziehen, durch seine eigene Welt, dann ist’s auch egal, wenn man am Polarkreis oder zu Hause auf dem Sofa sitzt.
Danke; fürs Lesen und für die Worte, und für den Äquator.
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sehr gut. sehr traurig, sehr bekannt, und sehrsehr gut geschrieben.
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Vielen lieben Dank dir, fürs Lesen und für deine Worte!
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Mich schaudert. So sehr bekannt und jetzt wieder so nah.
Was bist du nur für ein wunderbarer Schreiber. Danke für diese Perlen für uns Leser.
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Ich danke dir, fürs Lesen und die schönen Worte und wohl auch fürs Schaudern, irgendwie.
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Diese Gedanken, diese Strudel, diese Unmöglichkeit, in einem Gespräch an seinen eigenen Gedanken festhalten zu können, sie nicht zu Ende zu bringen können, es ist fürchterlich. So oft suche ich nach den richtigen Worten, die zur richtigen Zeit den Zusammenhang herstellen können, es verständlich machen, was sich in mir sammelt und raus muss, damit Klarheit besteht und so oft schlägt es fehl.
Danke fürs Aufschreiben und die richtigen Worte finden.
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Ich glaube, es war Mark Twain, der den Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen Wort einst mit dem Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen verglich. Wobei ich nicht weiss, ob er dabei über Beziehungen sprach… Ja, gerade in erhitzten Gesprächen sind die Sätze sehr schnell unterwegs, wohl weil sie müssen. Hätten sie mehr Zeit, wären sie wohl häufig anders… VIelen Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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