Es war ein heller Abend nach einem langen Arbeitstag, und er wollte eigentlich nur noch nach Hause. Stattdessen stand er in einer Bar, in welcher er noch nie gewesen war und deren Namen er zuvor nicht gekannt hatte. Der kleine Raum wirkte schummrig und matt, Lichterschlangen zierten Balken und Decke. Der Geruch von Rauch und Bier hing in der Luft, vermischt mit billigem Parfum und einem Hauch Kloake. An einer Wand hing ein gemaltes Bild eines toten Schweines, am Tresen saß ein kleiner betrunkener Mann vor einem leeren Glas, aus kleinen Lautsprechern dröhnten die Hits der Achtzigerjahre.
Er arbeitete als schlechter Reporter für eine schlechte Zeitung und sollte für eine Beitragsreihe über das Nachtleben der kleinen Stadt ein Interview mit der Besitzerin der Bar führen. Sie war dreiundfünfzig Jahre alt, zumindest behauptete sie das mit angemessen rauchiger Stimme. Ihr massiger Oberkörper schien der engen Bluse entfliehen zu wollen, zwischen ihren großen Brüsten verendete ein tätowierter Drache. Die Haut in ihrem runden Gesicht war ein wenig aufgedunsen und ließ auf zu wenig Licht und zu viel Alkohol schließen. Über den Augen lag ein trauriger Schleier, der Blick war trüb und ausgelaugt.
Sie hatte viel zu erzählen, immer wieder schweiften ihre Gedanken und Worte zurück in der Zeit, in eine Vergangenheit voller Stolpersteine, denen sie offensichtlich nicht immer auszuweichen vermochte. Wie ein trotziges Kind warf sie mit Erinnerungen um sich, einige schön, andere unschön, sie schleuderte kurze Fragmente in den Raum, ohne lange bei einem Thema zu verweilen. Er hätte nachfragen können, doch auf dem Notizblock in seinen Händen waren andere Fragen vermerkt, und um die ging es doch, daraus hatte er einen Artikel zu fertigen. Außerdem sehnte er den Feierabend herbei und war wenig erpicht darauf, in die Tiefen und Untiefen ihrer Biografie vorzudringen. Darum ging er nicht auf ihre Erinnerungen ein, sondern nutzte ihre Atempausen, um seine Fragen zu stellen. Sie antwortete in kurzen Sätzen und schien sich nicht daran zu stören, dass er kein Interesse an ihren Geschichten zeigte. Nach wenigen Minuten waren sämtliche Fragen beantwortet, alle Punkte abgehakt und das Gespräch zu Ende. Er verließ die Bar und trat in die warme Abendluft, atmete tief ein und aus, um seine Nase vom stickigen Geruch zu befreien.
Der Artikel war wie alle anderen Beiträge der Reihe vor allem langweilig und banal, eine Ansammlung substanzloser Sätze. Nichts daran war interessant, unter keinem einzigen Wort lag etwas anderes verborgen als das, was auf der Oberfläche trieb. Eigentlich müsste er das Interview längst vergessen haben. Und trotzdem geht er hin und wieder zurück, in Gedanken, zurück in jene Bar mit dem toten Schwein an der Wand und den Lichterschlangen an der Decke. Natürlich sitzt kein kleiner betrunkener Mann mehr am Tresen. Und auch die Frau mit dem Drachen zwischen den Brüsten ist nicht da. Sie ist längst verschwunden, er hat sie schon damals verpasst. Dennoch setzt er sich hin, irgendwie, sucht nach Versäumtem. Er stellt keine Fragen, sondern hört einfach zu. Einige Fragmente treiben tatsächlich noch im Raum, vereinzelte Bilder von Erinnerungen. Doch er kann nichts erkennen, alles ist verschwommen, die Bruchstücke vermengen sich zu einer grauen Masse. Bevor er geht, löscht er die Lichterkette. Er atmet tief ein und aus, verharrt kurz. Und verlässt dann die Bar.

ein gelungenes verbales Stillleben,
mit viel Muse vollbusig geschrieben
und ornamentiert mit kleinen Drachen,
toten Schweinen und Schlangen aus Licht,
ein beeindruckendes Erinnerungsgemälde…
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Herzlichen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und Hinschauen und für deine Worte… Wünsche dir ein wunderbar schönes Wochenende…
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Das wünsche ich dir auch,
Von Herzen,
Finbar
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eine verpasste Chance, die ihn aber trotzdem nicht lösläßt,
das tote Schwein an der Wand, die vollmusige Barfrau mit der großen geheimnisvollen Tätowierung, die Musik von damals, alles hätte in einem Artikel stehen können, der vor Lebendigkeit gesprüht hätte.
Er hätte Einzelheiten, Skuriles herausarbeiten können…
Aber es ist vorbei, er hat es vermasselt. Er ist in seiner eigenen Lustlosigkeit hängengeblieben und da hängt er immer noch, aber etwas piekte ihn, deshalb suchte er die Bar nun nochmal auf.
Vielleicht reißt er sich jetzt wieder zusammen. Macht einen neuen Termin. Schreibt noch mal einen Artikel, der vor Lebendigkeit überqillt, den er mit Herzblut schreibt.
Ich wünsche es ihm.
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vollmusig soll es nicht heißen *g*, sondern vollbusig!
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Obschon Vollmusigkeit wohl auch seine angenehmen Seiten haben dürfte…
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Ja, er hat es vermasselt, die Chance endgültig verpasst. Die Bar ist wohl mittlerweile geschlossen oder ersetzt worden durch eine jener seelenlosen Stätten der urbanen Modernität, wer weiss… Aber vielleicht ist ihm das Versäumnis eine Lehre…
Vielen Dank fürs Lesen und für deine Gedanken, liebe Bruni…
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Wie schade, dass er diese Chance verpasst hat. Und wie dumm, ein Interview zu führen, ohne zuzuhören…
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Ja und ja, schade und dumm, zweifellos… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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