Die Zeit wirft Falten, zieht Furchen in die Flächen, durchdringt die Schichten der Haut. All die Begriffe wie Zukunft und Freiheit und Perspektiven, sie werden immer mehr zu Hohlräumen, brüchig an den Kanten. Früher schwebte sie mit Fremden durch trunkene Nächte, unterwegs durch ungewisse Landschaften. Ihre Mutter warnte sie davor, sich mit erhobenem Daumen an Straßenränder zu stellen und mit unbekannten Menschen mitzufahren. Sie tat es trotzdem. Einige Autofahrer bestätigten den sorgenvollen Unterton in der Stimme der Mutter, mitunter heftig. Doch sie fuhr weiter, fuhr weiter mit, weil sie musste und weil sie wusste, dass sie sonst nicht weitergekommen wäre, und ums Weiterkommen ging es doch, darum ging es immer. Weiterkommen, nicht stehen bleiben, alles erkunden, alles erleben und jede Grenze überschreiten. Wenn sie per Autostopp reiste, fuhr die Angst wohl immer mit. Aber diese Angst, sie war greifbarer und einfacher zu bewältigen als jene, vor der sie floh. Irgendwann begann sie dennoch, nur noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen, fand Halt an Haltestellen, in der Verlässlichkeit von Fahrplänen. Sie bemerkte nicht, wie der Daumen allmählich zaghaft wurde, auch nicht, wie die Rhythmen der Lieder, die sie hörte, und der Sätze, die sie sprach, sich stetig verlangsamten. Es passierte einfach, ohne jegliche Absicht, wohl unbewusst und doch als klare Folge der bewussten Handhabung des Lebens. Sie trägt zwar noch keine Verantwortung, aber die Druckstellen sind bereits zu spüren, der Rücken schmerzt hin und wieder, die Furchen kündigen sich an. Sie weiß nicht, wie weit es in der Vergangenheit liegt, das letzte Mal, dass sie sich an die Straße stellte, die Hand zur Faust geballt und den Daumen nach oben gerichtet. Doch nun steht sie da, zum ersten Mal seit dem letzten Mal, wartend auf eine Mitfahrgelegenheit. Sie weiß, dass niemand anhalten wird. Per Autostopp kommt sie längst nicht mehr vorwärts. Es geht noch immer ums Weiterkommen, aber die Richtung hat sich geändert.

In den 60er Jahren bin ich auch viel per Anhalter von Dresden nach Görlitz und zurück gefahren – als Studentin war das Geld knapp und die Reichsbahn zu selten und zu unpünktlich. – Das war einer der wenigen Vorteile eines „abgeschlossenen“ Landes. „Böse Autofahrer“ konnten nicht ohne weiteres entkommen, also verging ihnen vielleicht die Lust auf das böse-Sein. – Oder, die Welt war damals wirklich noch gewaltfreier.
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Ich weiss nicht, wie ausgeprägt die Lust auf das Bösesein früher oder in anderen Gegenden war. Unböse war’s aber wohl auch früher nicht (weiss auch meine Mutter zu erzählen), aber besser wurde es im Lauf der Jahrzehnte wohl auch nicht…
Vielen lieben Dank fürs Lesen und fürs (Mit-)Teilen deiner Erinnerungen…
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Das gefällt mir richtig richtig gut ! 😀
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Das freut mich sehr! Danke!
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