Das Prinzip der Nachhaltigkeit hat seine Wurzeln in der Forstwirtschaft. Dabei wird dem Wald stets nur so viel Holz entnommen, wie nachwachsen kann. Somit kann er sich immer wieder erholen und wird nie vollkommen abgeholzt. Heute wird der Begriff inflationär und in vielfältiger Weise verwendet, die Definition ist schwammig geworden, hat sich jedoch nicht grundlegend geändert. Nachhaltigkeit meint in der Regel die Nutzung von Ressourcen bei gleichzeitiger Bewahrung von wesentlichen Eigenschaften, Stabilität und Regenerationsfähigkeit des jeweiligen Systems.
Ein junges Paar ging im Wald spazieren. Die Sonne warf helle Strahlen durch das Geäst, das wilde Zwitschern von Vögeln und ein erdiger Duft erfüllten die Luft. Vor einem mächtigen Nadelbaum blieben die Frau und der Mann stehen und blickten sich an. Dann schnitten sie mit einem Taschenmesser ihre Initialen und ein Datum in die Rinde, zeichneten ein Herz um die Buchstaben und Zahlen. Sie setzten sich auf den weichen Waldboden, küssten sich, streichelten sich, zogen sich mit drängenden Fingern die Kleider aus und liebten sich leidenschaftlich, während über ihren Köpfen ein Eichhörnchen von Ast zu Ast hüpfte.
Ihre Liebe, ihre Gefühle, die gemeinsam erlebte Zeit und die geteilten Träume, der Rhythmus ihrer Körper, ihre gewechselten Blicke und Worte, das alles waren die Ressourcen des jungen Paares. Einige Jahre später sind diese Ressourcen aufgebraucht. Wer die beiden sieht, glaubt kaum, dass sie gemeinsame Wege gehen, so groß ist die Lücke zwischen ihnen. Mit schweren Schritten stolpern sie durch das Dickicht, treten unabsichtlich, aber folgenschwer auf zarte Pflänzchen und Schmetterlinge. Überall liegt der Müll, der sich angesammelt hat, leere Worthülsen türmen sich auf, die Luft ist durchzogen von Schall und Rauch ohne Substanz. Eichhörnchen sind keine zu sehen, jedoch hört man in den Bäumen Borkenkäfer husten, kleine fiese Schädlinge. Einer allein richtet nicht viel Unheil an, aber wenn sie sich ansammeln und sich in den tiefen Schichten einnisten, höhlen sie das Holz aus. Zahlreiche Bäume ragen bereits grau und leblos in den wolkigen Himmel, ohne Blätter, ohne Kraft. Bei einem dieser Bäume sind Buchstaben und Zahlen in die Rinde geschnitten, umgeben von einer herzförmigen Kontur und kaum noch lesbar. Die Frau bleibt vor der Inschrift stehen, der Mann tritt hinzu. Sie betrachten die graue Rinde, dann schauen sie sich an, nur kurz. Schließlich senken sie ihre Blicke. Und wissen, dass sie das Waldsterben nicht mehr abwenden können.
Ob in ökologischer, ökonomischer oder sozialer Hinsicht, im Wald oder in Beziehungen: Nachhaltigkeit ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Handlungsprinzip. Sie muss laufend erarbeitet werden, will gelebt werden, jeden Tag. Ansonsten haben die Liebe und wir gegen die Borkenkäfer keine Chance.

Dieser Text erschien als Kolumne im L-Magazin, Ausgabe September 2014.
und so vergeht beides und beides doch ein Wunder der Natur
Die leidenschsaftliche Liebe der beiden – das eingeritzte Herz ist ja vollkommen nebensächlich, obwohl es so viel enthält – die Verwandlung ist es, die betroffen macht.
Sorgsames Hüten, unerläßliches Hegen, wichtiges Pflegen – beim Wald und seinen lebendigen Bäumen und bei dem einstmals liebenden Paar, ähnliche Fehler auf beiden Seiten.
Doch beim Wald hätte der Mensch noch einiges tun können, beim Paar sind es die beiden selbst, die für die bedürftige Liebe selbst verantwortlich waren, die sie verkümmern ließen.
Ach, das eingeritzte Herzchen, die vielen Liebesschlösser an Heidelbergs berühmter Alter Brücke, alles einmalige Gesten, nicht das, was zum Untergang oder Bestehen einer „Beziehung“ wirklich beiträgt…
In Deinen beiden letzten Sätzen hast Du es treffend zusammengefaßt, lieber Disputnik
LikeLike
Ja, liebe Bruni, die eingeritzten Herzen und die Schlösser an den Brücken, sie können keine Beziehung retten, auch keine Liebe, aber doch sind sie ein Zeichen, wie wichtig und gewichtig sie ist, selbst wenn sie dereinst vergehen sollte. Und vielleicht ist sie wichtig und gewichtig genug, um sie retten zu wollen und vor allem; sie zu leben und immer wieder neu zu beleben (das ist schneller und einfacher geschrieben als getan…).
Vielen lieben Dank für deine Worte und dein Weiterdenken…
LikeGefällt 1 Person
aber es ist die Mühe wert! Und durch Deine Texte regst Du die guten Gedanken an, sich noch mehr zu regen u. das ist verdammt gut, lieber Disputnik
LikeLike
Das Leben kennt zunächst keine Form, nur Stoff und Bewegung (Wille). Ein Herz im Baum, ein Begriff wie Nachhaltigkeit, wenn nur bloße Symbolik und leere Phrase, schaden eher der lebendigen Natur, als dass sie darin bewahrt werden könnte, aufgehoben und geschützt wie in einem Einmachglas oder unter Klarsichtfolie eingeschweißt.
Ein besonderer Text, kurz, aber alles gesagt.
Freundlichst
Ihr Herr Hund
LikeLike
Besten Dank, geschätzter Herr Hund, für Ihr Lesen und die Betrachtungen aus Ihrem Blickwinkel. Und ja, unter Folien ist vielleicht ein gewisser Schutz gegeben, doch atmen lässt sich nicht. Herzliche Grüsse…
LikeLike
Ich liebe deine Texte.
Der hier öffnet einem die Augen, und Beispiel und „trockener“ Sachverhalt sind unheimlich passend verknüpft.
LikeLike
Lieben Dank dir, fürs Lesen und die offenen Augen und für deine Worte…
LikeLike
Nachhaltig wirkender Text und ein trefflicher Vergleich. Die Duldsamkeit der Liebe wird manchmal über-, die Spätfolgen von Unachtsamkeiten aufgrund zu vieler Andersartigkeiten hinweg, hingegen unterschätzt.
Nicht alles ist zu retten durch toleranzinteressierte Präventivmaßnahmen, doch…
die Hoffnung stirbt zuletzt oder wie war das…?
Danke fürs Lesen und die Borkenkäfer…ach, ja…diese kleinen krabbelnden Bauminvasoren…ist die Rinde erst verletzt, finden die Eindringlinge offene Türen und Tore(n)…
Viele Grüße von der Karfunkelfee
LikeLike
Wunderbar weitergedacht und -beschrieben, vielen lieben Dank fürs Bereichern und Ausweiten… Und ja, eine einmal verletzte Rinde muss sich wohl noch viel vehementer und intensiver gegen schädliches Krabbeltier wehren… Herzlichen Dank fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
Ein Baum, der schwer verletzt wurde und der noch genügend Kraft in sich hat, bildet um die Verletzung herum eine neue Rinde. Das sind die Beulen und die Knoten, die einen alten Baum, der schon viel erlebt hat, charakterisieren als Unikum.
Interessant, was ich über die Borkenkäfer noch fand:
Sie sind wichtig für den Wald, weil sie kranke Bäume absterben lassen und so Platz und Licht für neue Bäume schaffen. Sie bevorzugen verholzende, also sowieso bald tote Bäume. Doch wie so oft, gibt es Arten, die aggressiver sind als die anderen und diese befallen auch gesunde Bäume und schon ist sie da- die Borkenkäferinvasion und der Freund vom Ökosystem Wald mutiert zum Todfeind.
Ein tolles Thema ist das und dieses Bild für Beziehung ist darin gut aufgehoben, finde ich. Nicht zu vergessen: Auch ein geschnitztes Herz im Baum verletzt die Rinde, schon wird das Menetekelufarsim der ewigen Liebe zum Schlächter am Sinnbild des Lebens.
Puh…😊
LikeLike
Ja, das Herz in der Rinde, dieses Verletzen des Lebendigen und Wachsenden, dieses Ritzen in die Rinde, um das Liebesbündnis zu manifestieren, es lässt sich auf verschiedene Arten deuten, von romantisch bis widersprüchlich…
Vielen lieben Dank dir für dieses wunderbare Weiterdenken und Teilen und Eröffnen neuer Blickwinkel…
LikeGefällt 1 Person
Ein sehr passendes Bild. Die Nachhaltigkeit der Liebe, ein Handlungsprinzip.
LikeLike
Dankedanke, fürs Lesen und für die Worte…
LikeLike