Wenn ich einen Bruder hätte, ich würde ihn Thomas nennen. Oder nein, er hieße Josef, wie Stalin oder Mengele, wenn auch nur zufälligerweise. Es ist durchaus ungebräuchlich und wohl auch verpönt, dass die Namensgebung einer Person in den Händen des Bruders dieser Person liegt, doch im Konjunktiv ist fast alles möglich und sehr vieles erlaubt, und nur dort, im Konjunktiv, gibt es ihn, meinen Bruder, und nur dort, im Konjunktiv, heißt er Josef, und dieser Josef ist ein Arschloch, ein furchtbarer Mensch. Ich verabscheue ihn aus tiefstem Herzen, und hätte ich zwei Herzen, würde die Abscheu in ihrer Intensität verdoppelt. Ich hasse Josef mit unbeschreiblicher Inbrunst, obwohl er mir eigentlich nichts getan hat, was kaum überraschend ist angesichts seiner ausschließlichen Erscheinung in der Möglichkeitsform. Doch es geht auch gar nicht darum, was er getan hat. Es geht darum, was er getan hätte und tun könnte, wenn es ihn gäbe.
Dieser Josef aus dem Konjunktiv, er ist entsetzlich perfekt, das Ausmaß seiner Vollkommenheit ist beinahe grotesk. Beispielsweise beherrscht er nahezu jedes Musikinstrument meisterlich, einzig die Oboe vermag er nicht zu spielen, jedoch nur, weil er sich ihr verweigert, da er den landläufigen Gerüchten Glauben schenkt, dass das Spielen der Oboe verrückt und dumm mache sowie das Risiko erhöhe, einen Schlaganfall zu erleiden. Daneben ist Josef der schnellste Läufer, kann höher springen, besser sehen und tiefer tauchen als jeder andere, er duftet atemberaubend gut und ist eine Augenweide sondergleichen. Er ist ein Prachtexemplar, vor allem im Vergleich zu mir. Wenn es mir gelingt, ein Kreuzworträtsel lückenlos zu lösen, ist Josef schon beim dritten. Wenn ich von unserer Mutter gelobt wurde, weil ich einer alten und ziemlich gebrechlichen Frau über die Straße geholfen hatte, renkte er besagter Dame alle Knochen wieder zurecht und schenkte ihr eine nie dagewesene Agilität sowie eine späte Karriere als Kunstturnerin. Ich konnte und kann nicht viel. Aber alles, was ich konnte und kann, konnte und kann Josef besser. Alle mögen ihn, viele lieben ihn, verspüren ein glühendes Sehnen nach seinem makellosen Leib oder einen unstillbaren Drang, an seinen Nippeln zu saugen, wobei letzteres im Vergleich deutlich seltener auftritt. Mir hingegen sind in Bezug auf seinen Körper vornehmlich Handlungen vorstellbar, die Schürfungen, Knochenfrakturen oder einen geschlossenen Sarg zur Folge hätten. In meinem bevorzugten Szenario lasse ich eine Oboe so häufig auf seinen Kopf krachen, bis beide kaputt gehen. Das liest sich wohl ziemlich brutal und martialisch, aber es muss sein. Denn Josef ist ein Arschloch.
Eigentlich kann er mir egal sein. Schließlich ist Josef nur eine bildliche Konstruktion, ein Phantom. Und doch, er ist alles, was ich gern wäre und nicht sein kann. Er nutzt die Chancen, die ich verpasse, er findet, was ich suche, er erreicht, was mir verwehrt bleibt, er vermeidet, was mich hemmt und hindert. Ich würde es ihm gerne gönnen mögen, würde mich gerne mit ihm über seine Makellosigkeit freuen, aber ich kann es nicht. Josef ist und bleibt ein Arschloch. Mir bleibt die Oboe. Immerhin.

der mögliche Bruder… *g*
was habe ich gelitten mit Dir und wie groß war mein Verständnis für Dich, lieber Disputnik, als ich von diesem so überaus genialen Bruder las, der einem die eigenen Schwächen, selbst wenn es keine sind, so hautnah bewußt werden läßt, der alles immer besser und noch viel toller kann, der immer im Vordergrund steht, der alle Liebe erhält, weil er vor Genie so strahlend leuchtet und das eigene Selbst leidet und verkriecht sich, bis es endlich so unendlich wütend wird, daß es die Oboe, diese arme, die mit den wundervollen Tönen, nimmt und auf den Bruderkopf donnern läßt…, denn irgendwann reicht es…möglicherweise
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Ja, möglicherweise reicht es irgendwann, auch wenn sich Derartiges vielleicht auch oboenschonender lösen liesse… Vielen Dank dir, liebe Bruni, für dein Lesen und dein Mitleiden und für deine Worte… Liebe Grüsse…
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man könnte aber auch ein Englischhorn nehmen….
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Ich bin zu sehr Banause, um die beiden auch nur ansatzweise unterscheiden zu können. Umso mehr lieben Dank für die Musik und fürs Lesen!
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