An einem Tag im Sommer 1984 geht Thomas zum Kiosk; sein Vater hat ihn geschickt, er soll Zigaretten kaufen, wie so oft. Die dicke alte Kioskfrau im kleinen Häuschen an der Kreuzung kennt ihn, schon häufig hat Thomas Zigaretten bei ihr gekauft, immer zwei Packungen Marlboro. Früher bekam er stets Wechselgeld, das klimperte hübsch in der Hosentasche. Drei Mal kaufte er sich aus dem Wechselgeld jene speziellen Kaugummis, in deren Verpackung jeweils ein Klebebildchen mit merkwürdigen Fantasiefiguren steckte. Eigentlich durfte Thomas jene Kaugummis gar nicht kaufen, darum versteckte er sie und erzählte seinem Vater, er habe das Wechselgeld verloren. Der Vater glaubte es zwei Mal. Seit dem dritten Mal zählt er das Geld genau ab, das Wechselgeld bleibt aus, und somit auch die Kaugummis. Doch Thomas will Kaugummis, unbedingt. Also beschließt er, sie zu stehlen. Und als die dicke alte Kioskfrau sich an jenem Tag im Sommer 1984 umdreht und mit ihren fleischigen Fingern die beiden Packungen Marlboro aus dem Regal zieht, greift sich Thomas eine Handvoll Kaugummis aus dem vergilbten Kunststoffbehälter gleich neben den Gummischlangen und schiebt sie unbemerkt in die Hosentasche. Das Bild vor seinen Augen verzerrt sich, es bebt, es wackelt, und sein Herz schlägt so laut, dass Thomas gar nicht hört, wie auf der Kreuzung direkt hinter ihm Reifen quietschen und zwei Autos miteinander kollidieren.
In einer Nacht im Sommer 1995 taumelt Thomas den Gleisen entlang nach Hause, sofern man die kleine Wohnung in der großen Stadt so nennen kann; Thomas nennt sie jedenfalls nicht so, er hat keine Ahnung von Zuhause, von Heimat oder Halt. Er ist außerordentlich betrunken und außerordentlich froh um die klare Richtung, die ihm die Schienen weisen. Er stolpert über die Steine und Querstreben durch die Dunkelheit, die noch dunkler wird, als er durch einen Tunnel muss. Zwar ist Thomas ziemlich sicher, dass um diese Uhrzeit kein Zug mehr fährt, aber eben nur ziemlich, und die Angst vor dem Abstand zur absoluten Sicherheit wird vom Alkohol lediglich ansatzweise betäubt. Vollkommen erblindet schleicht er durch den Tunnel, eingeschüchtert durch den Widerhall seiner zaghaften Schritte. Als es vor ihm schließlich geringfügig heller wird, beginnt er zu rennen und fällt sogleich hin, zu Boden gerissen von Trunkenheit, Gravitation und Erschöpfung. Er rappelt sich auf, geht wankend weiter, aus dem Tunnel hinaus und bald darauf über eine Brücke, die sich über einen bodenlosen Abgrund zu spannen scheint. Er blickt über das Geländer nach unten in die Leere und tastet sich allmählich dem kalten Metall entlang bis zur anderen Seite, wo er sich ächzend und würgend übergeben muss. Er geht noch einige Schritte den Gleisen entlang, bleibt dann erneut stehen und blickt zur Häuserzeile neben ihm. Er hebt einen Stein hoch, wiegt ihn in seiner Hand. Dann schleudert er ihn in Richtung Haus, einfach so, denn anders geht es nicht, nicht im Moment. Er will ein Fenster treffen, doch der Stein prallt humorlos von einer Mauerwand ab. Auch der nächste Stein trifft nur auf kalten Beton, alle weiteren ebenfalls. Schließlich hört Thomas auf zu werfen. Mit zitternden Fingern steht er neben den Schienen, setzt sich dann ins feuchte Gras neben den Gleisen und schließt die Augen. Als hinter ihm ein Güterzug vorüberdonnert, zuckt er nicht einmal mehr zusammen.
An einem Tag im Sommer 1999 raucht sein Vater seine letzte Zigarette. Einige Tage später steht Thomas vor einem Loch in der Erde. Er blickt hinein, sucht nach Würmern, doch da sind keine Würmer. Vielleicht kommen sie noch. Thomas schwankt ein wenig, seine Beine zittern seit Tagen unaufhörlich. Er sucht nach Halt, um nicht hinzufallen, doch da ist kein Geländer, da sind keine Münzen in der Hosentasche, da sind keine Steine. Thomas sinkt auf die Knie und versucht zu weinen, doch alles, was ihm gelingt, ist ein röchelndes Husten. Jemand zieht ihn hoch und redet auf ihn ein, doch Thomas kann ihn nicht hören.
In einer Nacht im Sommer 2003 liegt Thomas im Bett und raucht eine Zigarette. Neben ihm liegt eine Frau und weint. Einige Minuten zuvor hat sie Nein gesagt. Er hat nicht zugehört. Während er den Rauch ins dunkle Schlafzimmer bläst, beginnt das Bett zu wackeln. Vielleicht ein Erdbeben, vielleicht das Ende der Welt, vielleicht das letzte Getöse, doch Thomas ignoriert es. Als bald darauf direkt neben seiner kleinen Wohnung am Stadtrand ein Güterzug über die Schienen donnert, zuckt er nicht einmal mehr zusammen.
An einem Tag im Sommer 2010 sitzt Thomas im Sprechzimmer eines Arztes, der ihm erklärt, dass der Tumor erfolgreich operiert werden konnte und seine Krebserkrankung zumindest vorläufig überwunden ist. Thomas nickt wortlos und starrt auf seine Hände, sucht nach einem großen Stein auf dem Boden, um ihm dem Arzt ins Gesicht zu schleudern. Die Chancen auf eine erfolgreiche Therapie und Behandlung waren gering gewesen, aber zumindest vorhanden, doch eigentlich hatten sie ihn nicht interessiert. Der Krebs war seine Entschuldigung, sein Ausweg. Als die Diagnose kam, war er nur einen Moment lang bestürzt, danach kam die Erleichterung. Nun bleibt die Erleichterung aus. Thomas weiß nicht, woher das Dröhnen in seinem Kopf stammt, doch es ist ohrenbetäubend. So laut, dass Thomas gar nicht hört, wie vor dem Fenster der Praxis plötzlich Reifen quietschen und zwei Autos miteinander kollidieren.

Die Traurigkeiten des Lebens, die Bitternis, die sich entwickelt aus einem anfänglichen kindlichen Frust, die Entwicklung, die ein Leben nahm, das leer scheint, seinen Sinn nicht findet…
Wie gut hast Du diese aufeinanderfolgenden Teilstücke seines Lebens beschrieben, den heißen Kinderwunsch, der sich nur noch zu erfüllen scheint, wenn er stiehlt und die endlose Kette von trüben Geschehnissen, die sich nun um sein Leben zu legen beginnt…
Bewundernswert, lieber Disputnik
Die Idee mit einem Buch Deiner kurzen Geschichten ist gut. Es könnte ein richtig heißer Tip in den Buchläden werden
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Ja, liebe Bruni, die Idee mit dem Buch ist eigentlich gut und auch nicht neu, aber irgendwie zweifle ich daran, dass es den Weg in die Buchläden finden würde… Aber wer weiss… Schön wär’s auf jeden Fall… Vielen lieben Dank für deine wie immer tiefen Gedanken und für deine Worte… Schöne Grüsse…
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Titel:
Tristesse des Lebens
z.B.
Ich denke, es würde sich verkaufen, öfteer als Du es Dir vorstellen kannst.
Leider weiß noch kein Verlag um diesen Schatz, den Du hier hütest. Das ist sehr schade…
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Nun, ich geb die Hoffnung mal noch nicht auf, dass sich irgendwann ein Verlag doch noch gnädig zeigt… Vielen Dank für deine Worte und liebe Grüsse…
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Ich hätte bitte gerne irgendwann ein Diputnik Buch gebunden, auf feinstem Papier gedruckt. Mit festem schönem Einband. Da wäre mir nach. In deinen Geschichten zu blättern und sie hier zu haben. Handfest, anfassbar.
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Ein solches Buch hätte ich auch selbst nicht ungern… Vielen Dank schon mal fürs Interesse, und fürs Lesen und für deine Worte sowieso…
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Dann wird der Weg sicher dorthin führen. Ich freu mich sehr drauf 🙂
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Todessehnsucht. Sehr gut beschrieben mit allem. Wie tief musst Du tauchen, um so zu schreiben? Ist wohl nur einen rhetorische Frage, die manchmal bei mir auftaucht … Danke fürs Teilen. Herzlichen Gruss. Melanie
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Auch wenn’s noch immer seltsam ist, findet man wohl weit unten häufig mehr Erzählstoff als weit oben… Vielen Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte…
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Ich finde das überhaupt nicht seltsam … Danke für Deine Antwort.
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