Sie war ihm unweigerlich aufgefallen. Schöne Frauen fallen ihm meistens auf, und sie war außergewöhnlich schön, zumindest nach seinem Empfinden. Sie war mit einem Mann im Lokal, der offensichtlich ihr Freund oder Liebhaber war; sie saßen sich gegenüber, einige Meter von Bert entfernt. Immer wieder tauschten sie die Blicke aus, die man aus Filmen kennt, wenn es darum geht, die Phase des Verliebtseins zu inszenieren. Bert hätte kotzen können. Irgendwann zog die Frau einen hochwertigen Umschlag aus der Tasche. Mit einem verschwörerischen Ausdruck im attraktiven Gesicht schob sie den Umschlag über den Tisch und nickte ihrem Freund zu. Er wirkte ehrlich überrascht und hob den Umschlag hoch, öffnete ihn ganz vorsichtig, zog ein schlichtes dünnes Buch hervor und schlug es auf. Einige Sekunden lang blieb er reglos, blätterte einige Seiten um, auf denen Bert Fotos zu erkennen glaubte. Dann sah der Mann auf, schaute die Frau an, blickte wieder ins Buch, sah wieder auf, blickte wieder ins Buch, immer wieder. Irgendwann schien er sich ein wenig beruhigt zu haben. Seine Finger glitten über die Buchseiten, während er seiner Freundin einen Blick schenkte, in welchen sich neben der augenscheinlichen Verliebtheit nun auch eine gute Portion Lüsternheit geschlichen hatte. Ohne Zweifel hatte sie erotische Fotos von sich gemacht und ihrem Freund eine Freude bereitet, die er nun kaum mehr verbergen konnte. Er rückte mit seinem Stuhl ganz nahe zu ihr hin, streichelte ihre Wangen, ihren Hals. Der folgende Kuss glich einem Vorspiel, und Bert konnte förmlich spüren, wie die beiden die Welt um sie herum einfach vergaßen. Bert, der sein Bier bereits bezahlt hatte, stand auf. Beinahe schleichend begab er sich zum Ausgang. Als er am Tisch der beiden Verliebten vorbeiging, waren sie noch immer in ihren Kuss vertieft. Selbstverständlich schenkten sie Bert keine Beachtung. Und bemerkten auch nicht, wie er das Buch, das auf dem Tisch lag, an sich nahm und rasch aus dem Lokal eilte. Vor der Tür schob Bert das kleine Buch unter seine Jacke und rannte nach Hause, ohne sich umzudrehen.
Die Frau war tatsächlich außergewöhnlich schön, und die Fotos, mit welchen sie ihren Freund überrascht hatte, boten dieser Schönheit viel Raum zur Entfaltung. Das ganze Buch war gefüllt mit Aufnahmen von ihr, häufig nur spärlich oder gar nicht bekleidet. Ihre Posen reichten von schüchterner, beinahe züchtiger Zurückhaltung über reine Körperstudien bis zu expliziten Szenen, in welchen sie sich selbst befriedigte, erfüllt von tief empfundener Lust und zügelloser Leidenschaft. Bert war beeindruckt. Bert war auch ein wenig verliebt. Und ziemlich bald war Bert auch ziemlich besessen. Besessen von dieser Frau, von welcher er nur den Vornamen wusste, den sie in einer Widmung an ihren Freund auf die erste Seite geschrieben hatte. Anita. Bert kannte weder ihren Nachnamen noch ihre Geschichte, er hatte keine Ahnung, wie Anita aufgewachsen war, er wusste nicht, wie sie duftete oder wie ihre Stimme klang. Aber er kannte jeden Quadratzentimeter ihres Körpers. Jedes Mal, wenn er onanierte, hielt er das Buch in der Hand. Jeden Morgen, wenn er in seiner kleinen Küche seinen starken schwarzen Kaffee trank, hatte er es vor sich auf den Tisch liegen. Jeden Abend, wenn er im Bett lag, blätterte er noch einmal darin, bevor er das Licht löschte.
Anita ließ die Welt von Bert in ungekanntem Glanz erstrahlen. Noch nie zuvor schien die Zeit so viel Gewicht zu haben, noch nie zuvor war sein Leben so viel wert. Anita betonte die Farben, sie verstärkte Düfte und Klänge, sie vergrößerte sein Blickfeld. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlte sich Bert unbeschwert und glücklich, zwei Adjektive, die er zuvor aus seinem Wortschatz verbannt hatte. Dass irgendwo in seinem Innern eine Lampe eingeschaltet worden war und seine Augen leuchten ließ, blieb auch seinem Umfeld nicht verborgen. Zwar war dieses Umfeld ziemlich klein und nicht sonderlich nahe an ihm dran, trotzdem wurde Bert immer häufiger auf sein offenkundiges Glücksempfinden angesprochen. Zu Beginn druckste er herum. Er war gut im Herumdrucksen. Irgendwann jedoch erwähnte er eine Frau, eher beiläufig und unbeabsichtigt. Dann nannte er ihren Namen. Dann erzählte er Geschichten von Anita. Schließlich löste er eines der eher zurückhaltenden Fotos aus dem Buch, steckte es in seine Brieftasche, zeigte es allen, die danach fragten, und auch jenen, die nicht danach fragten.
Sein kleines Umfeld war beeindruckt. Selbst jene Peripherbekanntschaften, die sich zuvor nicht einmal bemüht hatten, zumindest ein grundlegendes Interesse an seiner Person zu heucheln, fragten immer wieder nach Anita, wollten all die Geschichten hören, die hinter dem Bild in Berts Brieftasche stecken mussten. Und Bert lieferte die Geschichten. Er erzählte vom Kennenlernen in einem Park, als Anita und Bert zur gleichen Zeit unter dem gleichen großen Baum Schutz vor dem einsetzenden Regenguss gesucht und sich dabei gefunden hatten. Er erzählte von Ausflügen nach Venedig und in die Camargue. Er erzählte von nächtelangen Gesprächen im Kerzenschein, von der körperlichen Erschöpfung nach Stunden der Ekstase, vom Duft ihrer nassen Haare und von Anitas merkwürdiger Angewohnheit, im Schlaf mit der Zunge zu schnalzen. Und wenn er allein war, erzählte Bert seiner Anita von seinem Tag, von den Menschen, denen er von ihr berichtet hatte.
Der Glanz in seinen Augen und seine kaum zu bremsende Zunge, das bereits ziemlich zerknitterte Foto und die Worte, die Bert zur Beschreibung von Anita fand – all das ließ in den aufmerksamen Zuhörern die Überzeugung reifen, dass sie tatsächlich eine wundervolle Frau war. Und auch in Bert erkannten sie plötzlich Werte und Qualitäten, die ihnen bisher wohl entgangen waren. Man unterhielt sich gerne mit ihm, hörte ihm gerne zu. Vor allem aber wollte man endlich Anita kennen lernen.
Sie sei verreist. Sie sei krank. Sie habe in letzter Minute einen dringenden Auftrag erhalten. Sie sei zu Besuch bei ihren Eltern. Sie habe den Zug oder das Flugzeug verpasst. Bert musste sich immer wieder neue Ausreden einfallen lassen, um Anitas wiederholte Abwesenheit zu entschuldigen. Die fragenden Blicke und enttäuschten Kommentare mehrten sich, und erste Stimmen begannen bereits, an Anitas Existenz zu zweifeln. Bert bemühte sich, den Schein zu wahren, seine Erklärungen trieben immer fantasievollere Blüten. Doch irgendwann versagten seine Kräfte. Unter Tränen gestand er, dass Anita bei einem furchtbaren Autounfall während einer Geschäftsreise ums Leben gekommen sei.
In den ersten Wochen der Trauer blieb sein Umfeld stets in seiner Nähe. Jeder umarmte ihn, man rief täglich an, schickte Briefe. Doch allmählich ebbten die Wellen des Mitgefühls ab, die Besuche wurden seltener und blieben irgendwann gänzlich aus. Die Abstände wuchsen wieder, die leeren Stellen wurden wieder grau und schwarz. Wer ihn sah, fragt kurz und knapp nach seinem Befinden und ging rasch weiter. Schließlich beließ man es bei einem förmlichen und wortlosen Nicken.
Heute ist nur noch Anita da. Bert hasst sie. Er verabscheut jedes Bild von ihr, jeder Gesichtsausdruck erfüllt ihn mit Wut, und er verdammt jeden Quadratzentimeter ihres Körpers. Er hat längst aufgehört, zu onanieren, doch das Buch konnte er nicht weglegen. Am Morgen, wenn er in seiner kleinen Küche seinen starken schwarzen Kaffee trinkt, liegt es vor ihm auf dem Tisch. Und am Abend im Bett blättert er jeweils noch einmal darin, bevor er das Licht löscht. Dann lauscht er der Stille und blinzelt in die Dunkelheit.

Du hast eine wahnsinnig direkte Art, zu schreiben, ziehst deinen Leser einfach in den ersten Zeilen tief in deine Geschichte und lässt ihn am Ende recht hart wieder fallen, nachdenklich und etwas perplex – bewundernswert!
LikeLike
Vielen Dank dir fürs Lesen, fürs Reinziehenlassen und Nachdenken, und für deine Worte ebenso…
LikeLike
„Unter Tränen gestand er, dass Anita bei einem furchtbaren Autounfall während einer Geschäftsreise ums Leben gekommen sei.“
…immer schlimm so etwas, lieber Disputnik…
das hat mich erinnert an das hier von mir (kennst du es schon?!):
http://finbarsgift.wordpress.com/2013/03/01/zweite-kusse/
Ich wünsche dir einen schönen Tag!
Liebe Morgengrüße vom Finbar
LikeLike
Ja, lieber Finbar, die wunderbaren Küsse mit dem schrecklichen Epilog kannte ich schon, las den Text aber grad nochmals, begeistert und betroffen zugleich…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
LikeLike
Leben durch und in einem anderen. Große Bilder. Stark gezeichnet. Feine Wendung. Kompliment.
LikeLike
Vielen Dank, liebe Candy, fürs Lesen und fürs Kompliment…
LikeLike
Sehr eindrucksvoll erzählt, lieber disputnik, und das Ende ist so, wie es nicht anders sein konnte.
Ein geliehenes Leben für eine Zeitlang…
Eigentlich hätte er schon viel früher einen schalen Geschmack im Mund haben müssen,
aber seine Einsamkeit war zu groß und sein Sehnen nach Liebe und Aufmerksamkeit auch…
LikeLike
Vielen herzlichen Dank, liebe Bruni…
Ja, der schale Geschmack hätte da sein müssen, doch da war wohl auch diese gewisse Süsse im Mund, auch wenn es eine künstliche war…
LikeLike
„Dann lauscht er der Stille und blinzelt in die Dunkelheit.“
So ähnlich ging es mir irgendwie auch als ich am Ende des Textes angelangt war. Da war dieser Hmpf-Effekt. Aber dessen gute Version. Erstaunlich wie einnehmend du einen durch einen Text geleiten kannst. Fällt schwer zu akzeptieren, dass die Geschichte zu Ende sein soll, bin doch eben erst eingetaucht. Unabhängig vom tragischen Inhalt: Solche Leseerlebnisse sind die besten! Danke für dieses Geschenk.
LikeLike
Solche Kommentare sind ebenfalls Geschenke, jedenfalls für mich… Vielen lieben Dank dafür, fürs Lesen und deine Gedanken!
LikeLike
Wow, was ein Aufstieg und Fall.
LikeGefällt 1 Person
Lieben Dank fürs Mitaufsteigen und -fallen…
LikeLike