Manchmal ist es gut, wenn man in Begleitung eines graphologischen Gutachters unterwegs ist, denn graphologische Gutachter können durchaus praktisch sein und verfügen zumeist über gut frisiertes Haupthaar. Doch jetzt und hier ist kein graphologischer Gutachter vonnöten. «Toni du Misgeburt» hat jemand an eine Hauswand geschrieben, und die wackligen Buchstaben und die orthographischen Unzulänglichkeiten lassen das Verdikt aufkeimen, dass der Intellekt des Verfassers von gewissen Limitierungen betroffen sein dürfte. Ich kenne weder den Schreibenden noch den Beschriebenen, und doch sind meine Sympathien klar verteilt. Toni ist ganz bestimmt keine Missgeburt, sondern wohl eher ein ziemlich liebenswerter, aber auch eigentümlicher und deshalb in manchen Kreisen unbeliebter Zeitgenosse. Und der Verfasser, nun, er ist ein dummes Arschloch.
Ein paar Häuser weiter ist ein merkwürdiges Geräusch zu hören, erstickte Klagelaute. Ich vermute ein verletztes Tier, wahrscheinlich eine Katze, und spähe über die halbhohe Mauer, hinter welcher das Geräusch seinen Ursprung zu haben scheint. In einem kleinen Garten steht ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt. In seiner Hand hält er ein dünnes Seil, dessen anderes Ende um den Hals einer Katze gebunden ist. Das Tier kann kaum atmen und schreit erbärmlich, was den Jungen aber nicht davon abhält, das Seil und damit die Katze in die Höhe zu heben, immer wieder. Ebenso grauenvoll wie das Wimmern der Katze ist das leise und seltsam schnarrende Lachen, mit welchem der Junge sein Tun untermalt. Ich atme bereits ein, um ihm böse Worte an den Kopf zu werfen, da wird im zweiten Stock des Hauses hinter ihm ein Fenster aufgerissen. Eine etwa vierzigjährige Frau streckt ihre missmutige Visage hinaus und ruft mit ächzender Stimme nach unten. «Verdammt, Toni, hör auf mit dem Scheiß und komm rein, du elender Trottel.» Toni lässt das Seil los, die Katze kriecht so schnell wie möglich von ihm weg, während er ihr ein letztes schnarrendes Lachen schenkt und schließlich langsam zum Hauseingang geht. Die Mutter murmelt noch einige unverständlichen Worte und schlägt krachend das Fenster zu.
Vielleicht wäre ein graphologischer Gutachter doch zu empfehlen gewesen.

„…orthographischen Unzulänglichkeiten lassen das Verdikt aufkeimen, dass der Intellekt des Verfassers von gewissen Limitierungen betroffen sein dürfte.“
Groß-art-ig!!
Ich hoffe doch sehr, du hast dem Jungen noch ein „e“ geschenkt?
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Vielen Dank! Und nein, ich verschenke keine Buchstaben, die brauche ich doch selbst…
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„ich verschenke keine Buchstaben, die brauche ich doch selbst…“
Möööp! :-)))
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Tja…erstens kommt es anders und zweitens als Du denkst.
oder….:
Spekulation ist manchmal/oft/meistens allen Irrtums Anfang.
Eine klassische Short Story, bei der ich beim Lesen aber schon vermutete, dass sie sich in eine andere Richtung entwickelt, noch bevor Mutter auf den Plan kam und das Kind beim Namen nannte…;)
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Wohin auch immer die Spekulationen führen und führten; vielen lieben Dank fürs Lesen und Denken/Andersdenken und für die Worte…
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Das hat mich erinnert an das berühmte Buch von Jean Cocteau „les enfants terribles“…
die Welt der Kinder ist eben, lieber Disputnik, wie du ja auf solche beeindruckende Weise hier schreibst, nicht nur eine höchst sensible,
sondern nur zu oft eben auch eine viel zu „terrible“…
Liebe Morgengrüße
vom Finbar
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Ja, das ist sie wohl, lieber Finbar, und in der Welt der Erwachsenen findet das „terrible“ sein oft aus dem Ruder laufende Steigerung…
Vielen Dank dir und liebe Grüsse zurück…
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das habe ich eben erst erlebt…
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auweiah, lieber Disputnik, nun bist Du schuld daran, daß ich hier mir Herzklopfen sitze.
Da hatte ich glasklar meine Sympathien verteilt und es kommt die Szene mit der Katze und ich fasse es nicht, wer hier das arme Tier quält…, mein sympathischer kleiner Freund, der liebe arme Toni, dem so böse mitgespielt wird…
Nun sind mir alle Rechtschreibfehler egal und alle meine Sympathien gelten der gequälten Kreatur u. ich schimpfe mit Dir, weil Du nicht schneller mit Deinem Rufen warst. Dann hätte die Mutter sich gar nicht erst in dieser rüden Art und Weise outen müssen.
Seufzende Grüße von mir
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Ach, entschuldige, liebe Bruni, dass ich deine anfänglichen Sympathien so jäh zerstört habe… Aber umso mehr und überhaupt danke ich dir für dein Lesen und deine Gedanken… Liebe Grüsse zurück…
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*lächel*, hab mich wieder erholt. Nein, im Ernst, ich fand die Geschichte toll, aber ich las wohl zu blauäugig anfangs, doch es ist der Sinne einer guten Kurzgeschichte, daß das Ende überraschend ist u. nicht allzusehr vorhersehbar.
Mein kurzer Kommi sollte direkt unter den von Finbar, weil ich eben vom Enkelchen zurückkam, frustriert, aber verstehend… Da passte „terrible“ ziemlich genau, denn nicht immer sind sie putzig und süß, die Kleinen. Wie sollten sie auch…
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Nein, sie sind nicht immer putzig, das ist wohl auch gut so. Und doch ist es manchmal erschreckend, wenn man sie sehr unputzig sieht… Vielen Dank nochmals für deine Worte, liebe Bruni…
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Puh …
Gut, sehr gut beschrieben. Schönen Abend. Melanie
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und für die Worte. Und gleichfalls…
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Oder ein zweiter Schriftzug: Tonis Mutter du Miesstück.
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Ohja, Miesstück ist auch hübsch… Schönen Dank fürs Lesen!
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