Irgendwann, an irgendeinem Tag in irgendeiner Woche, putzte er sich die Zähne, und als er die Zahnpasta ins Spülbecken spuckte, hob sich vor seinen Augen diese bräunlich-gelbe Masse mit rötlichen Fetzen und Streifen vom weißen Porzellan ab, auch die Zahnbürste hatte sich auf diese Weise verfärbt, und er fand das merkwürdig, aber nur ein wenig, es war wohl einfach Zahnfleischbluten, das kann es ja mal geben.
Am nächsten Morgen und am nächsten Abend putzte er sich wieder die Zähne, und erneut war da diese bräunlich-gelbe Masse mit rötlichen Fetzen und Streifen, doch auch da dachte er, dass es zwar seltsam, aber keineswegs besorgniserregend war, ganz normales Zahnfleischbluten, das kann schon mal zwei Tage anhalten.
Eine Woche später war es noch immer da, und allmählich hatte sich die anfänglich bräunlich-weiße Masse mit rötlichen Fetzen und Streifen in eine dunkelrot-bräunliche Masse mit gelblicher Maserung verwandelt, und während diese Masse mit beinahe arroganter Trägheit über das weiße Porzellan schlich, beschlich ihn das ungute Gefühl, dass es vielleicht mehr als nur ganz normales Zahnfleischbluten sein könnte.
Er suchte die Apotheke in der Stadt auf, um einerseits mögliche Ursachen und Behandlungen des Zahnfleischblutens abzuklären, aber andererseits auch, um der schönen jungen Apothekerin zu begegnen, die er schon oft dort gesehen hatte, doch an jenem Tag war sie nicht da, sondern nur ein alter Apotheker mit struppigem Bart, dessen Zähne sich farblich zwischen einem schalen Gelb und undefinierbaren dunklen Nuancen bewegten, weshalb der Zahnfleischblutende auf eine entsprechende Beratung verzichtete und nur eine Packung Kopfschmerztabletten kaufte.
Einige Wochen waren bereits vergangen und das Zahnfleischbluten hatte nicht nachgelassen, also beschloss er, wenn auch höchst widerwillig, seinem Zahnarzt einen Besuch abzustatten, der ihm jedoch lediglich eine leichte Zahnfleischentzündung attestierte, die mit der Zeit von alleine abklingen würde, was er natürlich nicht glauben mochte, schließlich spuckte er nun schon sehr lange diese dunkelrot-bräunliche Masse mit gelblicher Maserung in sein Spülbecken und wollte nicht mehr länger zusehen, wie sie mit beinahe arroganter Trägheit über das weiße Porzellan schlich.
Er fragte Freunde und Feinde und ahnungslose Spaziergänger nach ihrer Meinung und nach allfälligen Erfahrungen mit blutendem Zahnfleisch, und die meisten antworteten mit gezuckten Schultern, doch ein Bekannter berichtete vom Freund eines Freundes, dessen Zahnfleisch ebenfalls ständig geblutet habe, jedoch nicht aufgrund einer Zahnfleischentzündung, sondern als Folge von Blutkrebs, und tatsächlich sei jener Freund eines Freundes dann gestorben, nicht am Zahnfleischbluten, sondern eben an der Leukämie.
Gleich am nächsten Tag rannte er so schnell wie möglich zum Arzt und verlor unterwegs auch noch die letzten Zweifel daran, dass er unheilbar an Leukämie erkrankt war, doch der Arzt war anderer Meinung, er schüttelte den Kopf und zeigte sich auf höchst unpassende Weise erfreut; das Zahnfleischbluten sei kein Grund zur Besorgnis, er sei vollkommen gesund, ein bisschen mehr Bewegung würde nicht schaden, aber sonst sei alles in Ordnung; doch er glaubte diesem Arzt kein Wort, und als er eine Zweitmeinung einholte und auch diese keinen Krebs beinhaltete, glaubte er auch dem zweitmeinenden Arzt kein Wort, wütend verfluchte er die überbezahlten Mediziner und das marode Gesundheitswesen und die generelle Verweichlichung der Gesellschaft, er war natürlich vor allem enttäuscht von den Ärzten, diesen sogenannten Experten, die nicht erkannten, dass eine ernsthafte Erkrankung vorlag.
Er ließ sich in der Folge auch noch von einem dritten und einem vierten und einem fünften Arzt untersuchen, doch als auch diese ihm eine blendende Gesundheit bescheinigten, gab er auf, blieb aber überzeugt davon, dass er bald sterben würde, vielleicht nicht an Leukämie, aber bestimmt an einer anderen Art der vorzeitigen Lebensbeendigung, denn das Zahnfleischbluten, es war vorübergehend schlimmer geworden, hatte dann aber plötzlich aufgehört, was nur daran liegen konnte, dass schlicht kein Blut mehr vorhanden war, das sich in die nun wieder ziemlich helle, beinahe weiße Melange aus Zahnpasta und Speichel hätte mischen können, und was war denn fehlendes Blut, wenn nicht ein untrügliches Zeichen dafür, dass die letzten Stunden unmittelbar bevorstanden.
Am nächsten Morgen, es war irgendein Tag in irgendeiner Woche, putzte er sich die Zähne, und als er die Zahnpasta ins Spülbecken spuckte, hob sich die weiß Masse kaum mehr vom weißen Porzellan ab, und diese Reinheit erschreckte ihn zutiefst, eine Reinheit, die es nur am Anfang und am Ende eines Lebens geben konnte, und zum wiederholten Male nahm er sein dickes Medizinbuch in die Hände, blätterte hin und her, blickte kaum auf, auch nicht, als er sich mit geübten Schritten nach draußen bewegte, um wie jeden Tag die Post aus dem Briefkasten zu holen; er hätte den Weg mit verbundenen Augen gehen können, so gewohnt war er, doch an diesem Tag ließen ihn die Worte und Bilder im Medizinbuch gar nicht mehr los, er war von ihnen so gefesselt, dass er gar nicht bemerkte, dass er längst am Briefkasten vorbeigegangen war, und erst, als er über den Rand des Bürgersteigs stolperte, blickte er auf.
Den Menschen, die sich über ihn beugten, bot sich ein furchtbares Bild, denn der Geländewagen hatte ihn nicht nur umgefahren, sondern auch bis zur Straßenecke mitgeschleift, und nun lag alles in rötlichen Fetzen, der gesamte Körper schien von Blut bedeckt, nur eine Stelle wirkte seltsam unversehrt, im merkwürdig aufgerissenen Mund waren blendend weiße Zähne und ein beeindruckend attraktives Zahnfleisch zu erkennen, gesund und kräftig hob es sich von der dunkelrot-bräunlichen Masse ab, die ansonsten mit beinahe arroganter Trägheit über den Körper des Mannes schlich, und die ahnungslosen Spaziergänger, die in seinen letzten Momenten an seiner Seite kauerten, waren überzeugt, dass der Mann noch mit seinen Fingern seine Zähne und sein Zahnfleisch betastete, und dann, bei seinem letzten Atemzug, seltsam erleichtert schien und sanft lächelte.

Ich würde mal sagen, beim nächsten Einkauf einfach auf Zahnpasta ohne Fluorid achten.
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Vielen Dank für den Hinweis. Und fürs Lesen.
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…ein großartiges Crescendo des Schreibens!
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Vielen Dank dir, lieber Finbar, fürs Lesen und Hinhören…
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Wow, eine tolle Geschichte, lieber Disputnik. Wie gut hast Du die Angst des“modernen“ Hypochonders gekonnt
und mit leicht ironischem Unterton hinbekommen, Deiner leichten Feder scheinbar flüssig in die Tasten diktiert
und fast wie beiläufig kommt dann dieses Ende, bei dem er nur eines wissen will:
Wie steht´s mit den Zähnen, wie fühlen sie sich an… Also alles gut…
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen, fürs Nachspüren und für deine Worte, die mich, wie immer, sehr freuen…
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Traurig, wenn die Angst vor der Krankheit selbst zur Krankheit wird…
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Überhaupt traurig, was Angst manchmal auszulösen vermag… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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sehr gut! Leider ist das heutzutage nur zu oft so… weil sie immer und überall geschürt wird, diese Angst, vor allem von den allseits omnipräsenten und omnipotenten Medien…
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Boah ist tatsächlich das erste Wort, was mir am Ende dieser Geschichte einfällt. Mehrere Jahre hab ich in Arztpraxen mein Dasein gefristet und begegnete solchen Menschen. Ihre ganze Aufmerksamkeit lenkte sich auf das Ende. Eigentlich tragisch. Super gut erzählt. Vielen Dank. Melanie
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Ja, eigentlich sind derartige Geschichten tragisch und traurig, gefüllt mit ungefüllter Zeit… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und fürs Boah…
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