Wenn die Sonne strahlte, es angenehm warm war, ein schwacher Wind Sommerdüfte durch den Tag schob und die ganze Welt ein pittoresker Haufen voller Harmonie, Pracht und Herrlichkeit zu sein schien, fand Felix die Gesamtsituation noch ekliger als sonst. Schon aus dramaturgischer Sicht war schönes Wetter enorm unpassend. Er hatte Probleme. Kopfscheiße, irgendwie. Er mochte nicht mehr leben, er mochte nicht mehr essen, er mochte nicht mehr schlafen, er wollte gerne verschwinden und war trotzdem immer noch da. Wer ihn nicht kannte, hätte annehmen dürfen, dass es ihm gut ging, denn es gab keinen offensichtlichen Grund, weshalb das Gegenteil hätte der Fall sein sollen. Die Wahrheit sahen hingegen nur jene Menschen, die ihn kannten. Doch jene Menschen gab es eigentlich nicht. Felix belog sie alle, oftmals auch sich selbst, und manchmal stellte er sich deswegen zur Rede, doch in den meisten Fällen war es ihm egal, weil er glaubte, dass es sowieso nur eine Frage der Zeit war, bis er sich die Fragen der Zeit sich nicht mehr zu stellen brauchte. Hin und wieder jedoch tauchten sie auf, die Momente, in denen er mit seiner Kopfscheiße aufräumen wollte und fand, er müsse etwas dagegen unternehmen, sich helfen lassen. In einem dieser Momente blieb sein Finger beim Durchforsten des zerfledderten Telefonbuches zufällig bei der Nummer von Herrn Roth stehen, Diplompsychologe mit Praxis in der Innenstadt. Das passte, befand Felix, und vereinbarte einen Termin.
Es war sein erster Besuch bei einem Psychologen. Zahlreiche weitere sollten folgen, doch bis zu jenem Tag hatte er es erfolgreich vermieden, eine derartige Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Natürlich wusste er, was ihn erwartete, er hatte genügend Filme gesehen; er kannte das Ledersofa, den großen Notizblock, die akkurat geordneten Fachbücher im Regal. Er kannte die Topfpflanze auf dem Tisch und das Gemälde an der Wand, zwar abstrakt, aber nicht ablenkend. Er kannte die Brille, das Hemd und den Pullover, ausnahmslos alle Psychologen trugen Brille und Hemd und Pullover. All das sah er schon vor sich, bevor er überhaupt die Tür zur Praxis von Herrn Roth öffnete.
Die Brille, das Hemd, der Pullover, sie waren auch tatsächlich genau so, wie er es vorhergesehen hatte. Was man vom Rest nicht behaupten konnte. Herr Roth war klein und teilweise kahlköpfig, er sah ein wenig aus wie Danny DeVito in dessen Filmen aus den 1980er Jahren, nur deutlich ungepflegter und unattraktiver. Seine Füße waren in dicke Wollsocken gehüllt und steckten in Ledersandalen. Er trug eine dunkelbraune Cordhose, und sein Hosenstall stand weit offen. Die Hand, die Herr Roth ihm entgegenhielt, war fleischig, Finger wie kleine Würste, und der Kontext des offenen Hosenstalls trug nicht unbedingt positiv zum angenehmen Gefühl beim Händeschütteln bei. Herr Roth deutete auf einen roten Plastikstuhl und bat Felix, Platz zu nehmen. Im Hintergrund ragte ein überladenes Bücherregal merkwürdig schräg in den Raum, auf einem kleinen Tisch war ein pflanzenähnliches Gebilde offenbar vor längerer Zeit verendet.
Herr Roth stellte einige banale Fragen, zuerst über persönliche Daten und Fakten, dann über das allgemeine Befinden von Felix und die Gründe für den Besuch bei ihm. Die Antworten nickte er unkommentiert weg und lehnte sich zurück, schob die Beine ein wenig auseinander und verlieh dem geöffneten Hosenstall etwas mehr Prominenz.
«Wie ist es mit dem Sex?»
«Wie ist was mit dem Sex?» fragte Felix verblüfft zurück.
«Haben Sie Sex?»
«Mit anderen Menschen?»
«Ja.»
«Nein.»
«Befriedigen Sie sich selbst?»
«Ähm… Manchmal… Warum?»
«Woran denken Sie dabei?»
«Ich weiß nicht. An Frauen.»
«Aha.»
«Ja.»
«Bestimmte Frauen?»
«Nein.»
«Wie ist Ihre Beziehung zu Ihrer Mutter?»
«Sind wir noch beim Sex?»
«Das entscheiden Sie.»
«Die Beziehung zu meiner Mutter?»
«Ja.»
«Naja, okay. Eigentlich gut.»
«Wurden Sie als Kind gestillt?»
«Was?»
«Hat ihre Mutter Sie gestillt?»
«Ähm… Ja, ich glaube schon.»
«Denken Sie vor allem an Brüste, wenn Sie sich selber befriedigen?»
Es ging noch einige enorm zähflüssige Minuten so weiter, wobei Felix immer nervöser auf dem roten Plastikstuhl umherrutschte und die Antworten stetig einsilbiger wurden. Irgendwann sagte er nichts mehr, beschränkte sich auf Nicken und Kopfschütteln. Als Herr Roth am Ende einen Folgetermin vereinbaren wollte, hob Felix seine Hände und lehnte dankend ab. Er verabschiedete sich hastig und ging mit gesenktem Kopf aus der Praxis. Irgendwie fühlte er sich schmutzig, vor seinem inneren Auge tauchte immer wieder das Bild des offenen Hosenstalls auf. Am nächsten Tag rief seine Mutter an, und er konnte ihr nicht erklären, warum er kaum ein Wort zu sprechen vermochte.
In seiner Entwicklung als psychotherapeutischer Patient wurde Felix durch jene endlos lange Stunde auf dem Plastikstuhl von Herrn Roth weit zurückgeworfen. Es dauerte mehrere Monate, bis er wieder an jenem Punkt angelangt war, um mit seiner Kopfscheiße aufräumen zu wollen. In unregelmäßigen Abständen folgten fünf oder sechs andere Psychologinnen und Psychologen, ebenso willkürlich ausgewählt wie Herr Roth. Sie hatten ihren Hosenstall allesamt geschlossen und ließen Felix nicht auf einem Plastikstuhl sitzen. Ihre Fragen waren thematisch etwas breiter angelegt, ihre Topfpflanzen in annehmbarem Zustand, doch helfen konnten auch sie nicht wirklich, höchstens indirekt. Irgendwann ging die Kopfscheiße trotzdem vorüber. Dafür sorgten vor allem die Zeit, die gute Zeit, die guten Dinge, die guten Menschen. Wenn fortan die Sonne strahlte, es angenehm warm war, ein schwacher Wind Sommerdüfte durch den Tag schob und die ganze Welt ein pittoresker Haufen voller Harmonie, Pracht und Herrlichkeit zu sein schien, fand Felix die Gesamtsituation eigentlich ziemlich angenehm und erfreulich. Filme mit Danny DeVito konnte er sich jedoch nicht mehr ansehen.

*lach* Du herrlich schräger Kopf
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Danke!
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die Suche nach einem guten Therapeuten…
Ach, ja, sie scheint schwer zu sein und oftmals lange erfolglos, doch wenn man/frau dann auch noch bei der Karrikatur eines solchen landet, ist das fatal und schreckt womöglich für alle Zeiten ab.
Am besten ist es, mit der Kopfscheiße auf eine andere Art klarzukommen und nicht auf bestimmte Sprechzeiten angewiesen zu sein. Das Wie oder Womit und Wodurch ist eine schwierige Frage und ich denke, da sind es sehr individuelle Lösungen, die helfen können, für jeden eine andere mögliche, die er/sie für sich herausfinden muß oder
sie läuft einem unerwartet und unverhofft, völlig zufällig über den Weg *lächel*
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Ja, wie recht du hast, es gibt wohl nur individuelle Lösungen, für jeden eine andere… Und wahrscheinlich war sogar der Herr Roth mit dem offenen Hosenstall die passende Lösung für jemanden… Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Gedanken, liebe Bruni…
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Kommt mir fürchterlich bekannt vor…
Ich hatte ein ähnliches Erlebnis mit einer Sigmund Freud Kopie.
Das ging so lange gut, bis er den Mund aufmachte und zwei, drei zusammenhängende Sätze sprach.
Er knackte, hatte einen Sprachfehler.
Das Thema war sofort durch.
Mit so Jemandem kann ich nicht sprechen, so würde nie ein Dialog entstehen.
Zum Glück ging es ohne Trauma weiter….
Danke fürs Aufschreiben.
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Hmmja, ob professionell oder nicht; es muss wohl einfach stimmen, so zwischen den Menschen, damit es einen Dialog geben kann… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, und weiterhin viel Glück ohne Trauma…
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Oh Gott, sie sind flächendeckend so gleich, die Herr Roths (oder mit Apostroph?:) ) genau zwei kenne alleine ich, im hohem Norden. „Ihre Tochter kokettiert und möchte sexuell reizen“ sprach werter Herr Roth so damals. (Tochter zu dem Zeitpunkt 5. Freudsche Theorie hin oder her. Tschüß Herr Roth. Ein auf Wiedersehen kam nicht über meine Lippen.
Und manchmal kommt von unverhoffter Seite ein unbewußt genau richtiger Satz um vieles wieder grade zu sehen.
Genug der Schreiberei meinerseits, mein lieber Wortkünstler 🙂
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Wie viele von der Sorte des Herrn Roth es gibt, wage ich nicht zu sagen; es gibt sie wohl auch hier in allen guten und unguten Schattierungen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Gedanken…
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Oje, armer Felix. Hat der ein Glück gehabt, dass er auch so wieder auf die Beine gekommen ist… Ein schlechter Psychotherapeut kann ziemlich viel kaputtmachen.
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Ja, er hatte Glück, der Felix, hat seinem Namen alle Ehre gemacht… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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