Auf einer Holzbank an einer Bushaltestelle sitzt ein junger Mann, vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht auch dreißig Jahre alt, mit akkuratem Haarschnitt und glänzenden Lederschuhen. Man muss ihn nicht kennen, um zu ahnen, dass er entweder bei einer Bank, einer Versicherung, einem Wirtschafts- oder Beratungsunternehmen arbeitet. Sein Anzug ist zwar noch ein wenig zu groß, doch er wird hineinwachsen, das weiß er, das sieht man, und als zwei Hippies in inniger Umarmung an ihm vorübergehen, blickt er angewidert zu Boden.
Eine alte, etwas dickliche Frau kommt auf ihn zu, neben ihr ein kleiner, etwas dicklicher Hund. Im Gesicht des jungen Mannes zeigen sich erste Anzeichen von Beklemmung, die sich verstärken und ausbreiten, als die Frau sich laut schnaubend neben ihn auf die Holzbank setzt, die prall gefüllte Einkaufstüte vor ihre Füße stellend. Der junge Mann wirkt irritiert, die Situation bereitet ihm sichtliches Unbehagen, doch er scheint sich damit abzufinden und froh zu sein, dass die alte Frau ihn nicht in ein Gespräch zu verwickeln versucht. Stattdessen spricht sie mit sich selbst und ihrem kleinen Hund. Ihre Einkaufstüte beachtet sie nicht und bemerkt auch nicht, als sich diese leicht zu neigen beginnt. Die alte Frau redet mit monotoner Stimme, der Hund hört nicht zu und lässt lieber seine Schnauze schnüffelnd über den Boden gleiten, die Tüte steht immer schräger vor ihren Füssen, und die Konfrontation mit diesem stetigen Reden und Schnüffeln und Neigen lässt die gerade erst abgeklungene Beklemmung im Gesicht des jungen Mannes in neuer Blüte erstrahlen, verleiht ihr einen Anflug von Panik, doch er bleibt tatenlos und angstvoll sitzen, und schließlich geschieht das Unvermeidliche; die Einkaufstüte der alten Frau kippt um, Käse und Kekse und Karotten fallen auf den Asphalt, Tomaten und Äpfel rollen über den Bürgersteig. Während die alte Frau verärgert aufschreit und der Hund zu bellen beginnt, wird der junge Mann immer kleiner, der Oberkörper scheint einzustürzen, der Kopf sinkt zwischen die Schultern.
Unter Ächzen und Stöhnen sammelt die alte Frau ihre Einkäufe ein, immer wieder bückt sie sich unter offensichtlichen Schmerzen, um Käse und Kekse und Karotten und Tomaten und Äpfel aufzuheben. Der junge Mann verzichtet darauf, ihr zu helfen, zu sehr ist er damit beschäftigt, möglichst unsichtbar zu werden, mit der Holzbank zu verschmelzen. Wahrscheinlich wäre er am liebsten sofort aufgestanden und hätte rasch das Weite gesucht, doch dadurch wäre er wohl zu sehr aufgefallen, hätte sein fehlendes Engagement zu deutlich erkennen lassen. Also sitzt er da, ganz still, ganz starr, der Blick fixiert einen Punkt vor seinen Füssen, der junge Mann, er ist auffallend unauffällig und verschwindend klein.
Seine Strategie scheint zu funktionieren. Die alte Frau fokussiert sich ausschließlich auf ihre Einkäufe und füllt ihre Tüte allmählich wieder auf, ohne den jungen Mann mit hilfesuchenden Blicken zu peinigen oder ihn gar verbal zu belästigen. Die unerfreuliche Situation, sie wird vom Lauf der Zeit zurückgelassen werden, und er, er wird einfach weitermachen können, mit seinem akkuraten Haarschnitt und den glänzenden Lederschuhen, wird unbeirrt in den noch ein wenig zu großen Anzug hineinwachsen können. Eine leichte Entspannung erfasst seinen Körper, in seinem Gesicht keimt ein schüchternes Lächeln, das jedoch unvermittelt erstarrt und stirbt. Die Panik kehrt zurück, noch stärker als zuvor, die Augen sind weit aufgerissen, jeder Muskel wird zu Stein. Die alte Frau sucht die letzten verbliebenen Tomaten zusammen und schenkt ihm nach wie vor keine Beachtung. Umso mehr tut dies der kleine, etwas dickliche Hund. Nach einem ersten neugierigen Schnüffeln beginnt er, sich am Bein des jungen Mannes zu reiben, immer schneller bewegt er sich über den glänzenden Lederschuh und das Hosenbein, mit heraushängender Zunge, erigiertem Penis und einem leidenschaftlichen Blick aus treuherzigen Hundeaugen.
Ein paar Minuten später kommt der Bus. Die alte, etwas dickliche Frau und der kleine, etwas dickliche Hund steigen ein, beide ziemlich müde und ausgelaugt. Der Busfahrer wartet noch einige Sekunden, schließt dann die Türen und fährt weiter. Zurück bleibt ein junger Mann auf der Holzbank an der Bushaltestelle. Irgendwann tritt ein älterer Herr zu ihm hin, fragt ihn, ob der Platz neben ihm noch frei sei, doch der junge Mann reagiert nicht, blickt lediglich reglos zu Boden. Als in der Ferne ein Hund bellt, zuckt er zusammen, schaut sich kurz um. Dann starrt er wieder auf den rettenden Punkt vor seinen Füssen.

Da musste ich gerade daran denken, dass ich eben an einer älteren Dame vorbeilief und diese genüsslich eine Tüte Pommes mampfte. Leider klebte ihr Senf an der Nase. Da die Nase nicht unbedingt das ist, was man sich nach dem Essen auch mit abwischt, habe ich nach kurzem Überlegen angehalten und sie darauf hingewiesen. Sonst wäre sie ja mit gelber Nasenspitze herumgelaufen.
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Sehr schön, die gute Tat am heutigen Tag ist abgehakt… Obschon es ja in gewissen Kulturkreisen ein Verbrechen ist, Pommes mit Senf zu essen… Vielen Dank dir fürs Lesen…
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Ich weiß auch nicht genau, was der Senf dabei sollte … Aber darauf wollte ich sie nicht auch noch aufmerksam machen. 🙂
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…diese Art junge Menschen tun mir einfach nur unendlich leid…
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Hmmja, obschon sie mir wohl gar nicht leid tun, irgendwie… Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Gedanken, lieber Schreibfreund…
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Der Text ist durch die Ratlosigkeit sehr nah am Leben dran. Denn was erklärt einem das Leben schon. Es schreitet voran, lässt einen zwar nie ratlos zurück, reißt einen aber mit, ohne viel erklären zu müssen (oder zu können)….C’est la vie!
Eine sehr schöne kleine Geschichte, wieder einmal.
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Jaha, das Leben ist ziemlich zurückhaltend mit Erklärungen, aber vielleicht braucht es sie auch gar nicht immer… Vielen lieben Dank fürs Lesen und die schönen Worte…
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hat mir sehr gefallen (wie immer, wenn du erzählst!), aber das ende lässt mich ganz schön ratlos zurück. dabei könnte ich nicht mal sagen, was ich mir gewünscht oder was ich erwartet hätte. hm. vielleicht wünsche ich als nächsten haltestellengast einen mann mit einer dänischen dogge 🙂
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Lieben Dank dir… Und das Ende ist natürlich offen für dänische Doggen, auch für deutsche Schäferhunde oder Dalmatiner. Und eben auch für eine gewisse Ratlosigkeit, Unsicherheit vielleicht…
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und die dürfte ihm vermutlich am besten tun, diesem jung-bwler.
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Vermutlich, tatsächlich… Nochmals besten Dank!
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Dieser Kommentar hat mir gerade den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich lache immer noch schallend, meine Liebe. Die Bilder in meinem Kopfe, ohjehmitmineh…
Lieber Disputnik, Sie haben einen bemerkenswerten Blick und vermitteln diesen schreibend weiter. Und wie! Ich sah den Lackaffen schrumpfen. In meine Betroffenheit ist mir die Rocknroulette befreiend reingekrätscht. Es ist gut so, genau wie im Leben eben.
Herzliche Grüße, Ihre Frau Knobloch.
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Herzlichen Dank, liebe Frau Knobloch, für das offenherzige Lesen und die freundlichen Blumenworte…
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