Sie beobachtet die Ziffern der kleinen digitalen Küchenuhr; die Zeit läuft rückwärts, drei Minuten verringern sich, schwinden und verschwinden, bis zum letzten leeren Viereck auf der Anzeige, vier identische Zahlen ohne Wert, und dann der stoische Signalton. Sie drückt einen Knopf, nimmt vorsichtig den Teebeutel aus der Tasse und legt ihn auf einen kleinen Teller, dann lässt sie zwei kleine Süßstofftabletten in den Tee fallen und wartet, bis sie sich aufgelöst haben. Wohin bewegt sich das Leben, wenn die Zeit rückwärts läuft?
Der Sommer ist jung und mild, es ist Samstag, später Nachmittag. Sie geht ins Wohnzimmer, Filzpantoffeln dämpfen ihre Schritte, die leeren Wände werfen ihr Schweigen zurück in den Raum. Sie öffnet das Fenster und hört den Lärm der Welt; vor allem hört sie Stimmen, laute Worte, laute Dialoge, laute Zwischenrufe, lautes Lachen. Sie stellt sich hinter den Vorhang und späht vorsichtig hinaus, hinaus aus ihrem Versteck und hinüber zu einem Balkon des Nachbarhauses, wo die lauten Stimmen ihren Ursprung haben. Natürlich. Die Ausländer.
Worüber lachen sie die ganze Zeit? Welche Sprache soll das sein? Jedenfalls ist es ein furchtbares Kauderwelsch. Man versteht kein Wort! Wer in dieses Land kommt, soll unsere Sprache lernen! Die sollen sich gefälligst anpassen, man muss sich doch anpassen, die Gepflogenheiten respektieren. Zumindest Respekt sollte man doch erwarten dürfen, auch von solchen Leuten. Und überhaupt, was gibt es da eigentlich zu lachen? Ha! Das sollen Flüchtlinge sein? So arm sehen die nicht aus. Denen geht’s doch blendend! Parasiten, Schmarotzer, kennt man ja. Die sehen nicht so aus, als würden sie Sorgen haben, wie sie da fröhlich schwatzen und lauthals lachen. Fleisch auf dem Grill, Wein auf dem Tisch. Maden im Speck! Und dann sitzt da die ganze Familie auf diesem kleinen Balkon! Muss denn das so laut sein? Und worüber lachen sie die ganze Zeit?
Sie hört zu, minutenlang, ohne ein Wort zu verstehen oder auch nur ansatzweise erahnen zu können, was auf dem Balkon gegenüber geredet wird. Die Knöchel ihrer Hand werden weiß, dann wieder rot. Sie nippt an ihrem Tee; er ist kalt geworden, und sie zuckt unweigerlich zusammen. Sie starrt noch einige Momente lang aus dem Fenster und wendet sich dann ab, geht wieder in die Küche. Ihr Blick fällt auf die Anzeige der digitalen Küchenuhr, vier Vierecke, vier identische Zahlen ohne Wert. Weshalb lachen sie?

„das Lachen“ der anderen scheint deine Teetitelheldin am meisten zu stören…
und das hat gar nicht mal so viel mit den anderen, fremden, fremdsprachigen Leuten zu tun,
sondern damit, vom gemeinsamen LACHEN ausgeschlossen zu sein…
und irgendwie ist das wohl IMMER BITTER…
Dir einen schönen Tag, lieber Schreibfreund,
Herzliche Grüße vom Finbar
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Ja, das Lachen, es klingt in ihren Ohren wohl wie ein Hohn, es löst Neid aus, die bitteren Gefühle des Ausgeschlossenseins…
Vielen Dank für deine Worte, lieber Finbar… Auch dir einen wunderschönen Tag und herzliche Grüsse…
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„Trigonometrie“ hat das Thema bereits sehr gut aufgegriffen: das menschliche Unglück (es gibt kein anderes) liegt im Vergleich. „Die Hölle, das sind die Anderen“, ist ein allgemein bekanntes Zitat. Jetzt in diesem Text lautet die Frage ja nicht, weshalb die anderen lachen, sondern warum man selber so schwer dazu in der Lage ist. In den monströsen Spiegeln anderer Menschen Glück, zeigt sich (besonders dem Einsamen) das eigene Leid und die eigene (manchmal selbst herbeigeführte) Unfähigkeit, aus diesem herauszufinden. Und dieses Spiegelsein macht man oft genug den Anderen zusätzlich zum Vorwurf, was das Leid nurmehr verstärken kann.
Fühle mich bei den beiden Texten, „Trigonometrie“ und diesem hier an ein Zitat von Kierkegaard erinnert: „Das Vergleichen ist das Ende des Glücks und der Anfang der Unzufriedenheit.“
Fühlte mich sehr angeregt durch das, was ich hier lesen konnte, und auch für die weitere Blogaktivität so ernst nehmen, dass ich hoffentlich nicht den Fehler machen werde, mich mit anderen Blogs vergleichen zu wollen. Ich würde nur unglücklich darüber werden. Respekt Disputnik!
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Wie recht du hast und wie wunderbar du davon erzählst, vom Vergleichen und von den Dingen, die es hervorbringt… Der Vergleich ist wohl selten ein Schmied des Glücks, zumindest nicht eines langfristigen Glücks, und natürlich gibt es Ausnahmen, zuvorderst im Sport, aber die Gesellschaft ist selten sportlich…
Vielen lieben Dank dir für dein Lesen, deine Gedanken und Worte…
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schwierig ist es schon zwischen Menschen, die scheinbar die gleiche Sprache sprechen und dann noch eine andere Kultur, oh, verdammt, das ist nicht einfach. Vieles äußert sich so anders, als wir es gewohnt sind.
Wie könnten wir Verstehen lernen, wenn die Sprachbarriere schon so krass trennt und dann dieses fremde Verhalten dazu. Da wird von uns viel verlangt.
Und doch ist es eigentlich weniger, als wir meinen. Öffnen wir unsere Herzen, unsere Seele, sofern wir nicht schon im eigenen Kummer fast erstickt sind, dann finden wir heraus, warum sie immer noch lachen können, obwohl sie unentwegt weinen könnten.
Wir machen es uns selbst nicht leicht und den anderen erst recht nicht…
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Vielen herzlichen Dank dir, liebe Bruni.. Ja, das Verstehen ist schwierig, aber es müsste doch möglich sein, zumindest das Versuchen, zumindest das Respektieren des Andersseins der anderen…
Nein, den anderen machen wir’s nicht leicht, und selbst auch häufig nicht. Aber manchmal schon, manchmal macht man es sich wohl zu leicht…
Nochmals lieben Dank dir und herzliche Grüsse…
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Woher kommt das, dass wir das Leid anderer nur akzeptieren, wenn die nichts anderes tun als leiden? Die lachen, denen kann’s ja gar nicht so schlecht gehen. Unserer Hilfe ist nur würdig, wer permanent weint; aber bitte nicht zu laut, meine Lieblingsserie läuft gerade.
Oder hat es damit zu tun, dass wir das Leid anderer einfach am liebsten überhaupt nicht sehen würden? Und uns deshalb an allem festhalten, das uns erlaubt so zu tun, als würde es nicht existieren?
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Ich weiss nicht, ob es darum geht, dass wir das Leid anderer nicht sehen wollen. Vielleicht möchten wir es manchmal nicht zu nahe kommen lassen. Vielleicht geht es auch hier mal wieder um Angst…
Vielen lieben Dank dir fürs Lesen, für deine Gedanken und Worte…
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