Sie war noch nie am Meer, und wenn sie das sagt, sind die Leute überrascht. Echt jetzt? Aufrichtiges Erstaunen. Wirklich? Der Klang der Stimmen erzählt von Ungläubigkeit und Verwunderung, aber nicht selten auch von einer gewissen Herablassung, von den unliebsamen Seiten des Mitleids, von einem Ungleichgewicht in den Biografien. Danach folgt meistens das Belehrende. Da musst du hin! Das musst du sehen! Sonst entgeht dir was! Schließlich werden ihr Berichterstattungen zuteil. Wie schön es dort ist! So gewaltig, so unbeschreiblich wundervoll! Natürlich wird das Unbeschreibliche trotzdem in detaillierte und schwärmerische Beschreibungen gefasst. Meistens vom Mittelmeer, manchmal auch vom Pazifik oder vom Atlantik, von den Stränden mit dem weißen Sand oder den schwarzen Steinen, vom klaren Wasser, von den Wellen, die entweder stetig ans Ufer rollen oder sich wütend an schroffe Felsen werfen. Die Leute verlieren sich in langen und breiten Schilderungen von Leuchttürmen und staubigen Promenaden, von hohem Gras in den Dünen und von Delfinen in der Ferne, sie nennen jedes Gericht auf der Speisekarte dieses kleinen Restaurants am Hafen und wissen noch, wie der alte Mann heißt, der mit seinem kleinen Wagen jeden Tag am Ufer steht und hausgemachte Limonade verkauft. Sie hört zu und merkt sich jedes Wort, malt sich Bilder hinter die Augen, klebt Momentaufnahmen in ein imaginäres Fotoalbum. Sie hat keinen dieser Momente selbst erlebt, doch in den Erzählungen werden sie lebendig. Und bleiben es auch in ihrem Kopf.
Sie war noch nie am Meer. Und kennt es besser als alle anderen. Sie sieht es aus allen Perspektiven, weiß um jede geheime Ecke, jeden verborgenen Winkel. Sie erinnert sich an die bizarren Felsformationen vor der Küste, an jedes stumme Zischen, das erklingt, wenn die Sonne am Horizont in den Ozean sinkt. Da musst du hin! sagt jemand nach ihrer Verneinung der Frage, ob sie bereits einmal am Meer war. Das musst du sehen! Sonst entgeht dir was! Und während sie den Erzählungen lauscht, schmeckt sie das Salz auf der Zunge und lächelt wissend, als der Fischduft in die Nase steigt.

ich kann es sehr gut nachempfinden, daß sie nun so voller Bilder ist, daß sie gespeichert hat bis der Speicher überlief, dass sie es in ihrer sehr lebhaften Phantasie tausendmal schöner sehen kann, als sie die Wirklichkeit empfinden würde.
Dort würde sie auch die Dinge sehen, die ihr nicht gefallen, wie überfüllte Strände, Streit um Handtücher, Streit um mehr, immer mehr, Abfall in den Dünen, schmutzige Quartiere, Fisch im Restaurant, der nicht mehr wie frisch aus dem Meer schmeckt…
All dies hat sie nicht in ihrem Speicher; da sind nur die Wunder, die sie dort erwarten…
Wind, Wellen, Meer und wundersame leere, schneeweiße oder auch rosa Sandstrände…
Ja, ich kann sie verstehen, aber nur, weil ich mir in Gedanken ausmale, was die Fantasie zuwege bringt.
Feine Zeilen, lieber Disputnik. Nachdenkliche Gedanken wert.
Liebe Grüße von mir
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Vielleicht liegt genau darin der Reiz für jene Menschen, die bevorzugt in ihrer Fantasie leben; die unschönen oder auch nur langweiligen Dinge der Realität lassen sich ausklammern. Die Fantasie ist immer genau so, wie man sie möchte. Was sich von der Realität nicht behaupten lässt.
Vielen Dank dir, liebe Bruni, fürs Lesen und Nach- und Weiterdenken…
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Ob das wirklich das gleiche ist? Andererseits, wenn sie nach all diesen Erzählungen jetzt ans Meer führe, wäre sie nicht enttäuscht, dass es nicht all das, was sie gehört hat, auf einmal ist?
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Es ist natürlich nicht das gleiche, denke ich, und ja, wahrscheinlich wäre sie enttäuscht und ernüchtert.
Die Bilder, die sie mit ihrer Vorstellungskraft entstehen lässt, sie zeigen nicht die Realität. Aber sie haben trotzdem einen Wert, zumindest für sie…
Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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