Irgendwann werde ich nicht mehr da sein, sagt sie, und man kann kaum überrascht sein, auch wenn man leer schluckt und erfolglos nach Worten ringt. Es ist eine biologische Tatsache, unabwendbar und nachvollziehbar, außerdem kenn man den Satz seit Jahren, Jahrzehnten, hört ihn immer wieder aus ihrem Mund, manchmal seltener und beiläufiger, manchmal häufiger und nachdrücklicher. Und trotzdem, man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Satz allmählich weniger diffus und nebulös durch die Luft wabert. Er wird klarer und greifbarer mit jedem Jahr, mit jedem Arztbesuch, von dem sie erzählt, mit jedem entfallenen Wort, mit jeder Frage, die sie wiederholt, obwohl sie bereits beantwortet ist. Irgendwann werde ich nicht mehr da sein, sagt sie, und dieses Irgendwann, bisher so theoretisch, so fern und abstrakt, es nähert sich, und wie alle Dinge wird es größer mit schwindender Distanz. Der Blick kann weniger gut ausweichen, es braucht immer mehr Platz im Sichtfeld, dieses Irgendwann.
Ein anderer Satz taucht auf. So löse ich mich auf und komme mir abhanden, schrieb einst Michel de Montaigne. Ja, man löst sich auf, und man kann kaum überrascht sein, auch wenn man leer schluckt und erfolglos nach Worten ringt. Man kommt abhanden. Sich und der Welt. Irgendwann.
In einem großen Haus hängen Bilder an den Wänden, Portraits von Menschen, die Farben sind warm, jeder Pinselstrich erstreckt sich nicht nur über die Leinwand, sondern auch in die Tiefe, und die Zeit, sie ist erstarrt auf den Bildern, doch dahinter dehnt sie sich aus. Man geht durch die Räume, und überall hängen sie, die Bilder, die Gesichter, amüsiert und ernsthaft, freudig und sorgenvoll. Doch irgendwann, irgendwann bleiben die Wände zusehends nackt, man sieht nur noch die weißen Tapeten, es gibt keine neuen Bilder mehr, die Leerstellen häufen sich. Es ist noch das gleiche Haus, doch es scheint etwas kühler, die Orientierung fällt schwerer. Die Leerstellen werden größer, der Blick kann weniger gut ausweichen, sie brauchen immer mehr Platz im Sichtfeld. Irgendwann werde ich nicht mehr da sein, sagt sie. Die Leerstellen bleiben. Auch wenn die Zeit sich nicht mehr dehnt, irgendwann, nach dem Auflösen, nach dem Abhandenkommen.
irgendwie ist es manchmal auch tröstlich, lieber Schreibfreund, irgendwann der Welt einmal abhanden gekommen zu sein…
denn schließlich wurden wir ja auch irgendwann einmal in sie hineingeworfen, ohne unser Zutun, das war noch ein viel brutalerer Akt, ohne uns überhaupt zu fragen, ob wir das wollen…
dagegen ist das Ende eines Lebens wahrlich oft ein sanftes Ausschleichen…
immer wieder schön und wichtig, über deine Texte nachzudenken, sie wirken zu lassen, und ihnen, also dir dann darauf zu antworten…
liebe Grüße zum sonnigen Morgen vom Finbar
PS: übrigens schau mal, hier: http://finbarsgift.wordpress.com/2014/05/19/im-hintergrund-der-santis/
kommt dir das nicht irgendwie bekannt vor? *lächel*
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Wie wahr, lieber Finbar, tröstlich ist ein ziemlich passendes Wort dafür, zumal es auch vieles entschärft, von Druck befreit… Vielen Dank dir fürs Lesen, fürs Wirkenlassen, für deine Worte…
Und das Bild, ja, bekannt… Wo hast du’s aufgenommen? Langenargen?
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Ja, von dort aus…
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genau so ist es. Wie sehr kann ich es bestätigen, Wort für Wort…
Manche Menschen sagen es früh, häufig, andere weniger, doch der Gedanke geistern formlos durch den Raum und irgendwann konkretisiert er sich, nimmt Gestalt an, das Unaussprechliche kommt näher und näher und man/frau wird damit konfrontiert, mit diesem Ende, das unserer Erdenzeit gesetzt ist, das wir erleben, doch in Wahrheit nicht recht begreifen…
Ja, ich kann Deine Worte bestätigen, lieber Disputnik, und ich muß Dich sagen, sie gehen ín diesem Moment sehr tief
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Liebe Bruni, vielen Dank für deine Worte, und ja, unbegreiflich wird es wohl immer irgendwie bleiben, auch nach dem Erleben… Nochmals herzlichen Dank für das Zulassen und für deine Worte…
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Irgendwann wird sie nicht mehr da sein, irgendwann werden wir alle nicht mehr da sein, nicht einmal mehr die, die um uns getrauert haben werden. Und wir können uns nicht darauf verlassen, dass irgendetwas bleibt. Aber was schließen wir daraus? Dass das Leben traurig ist, weil es den Tod immer schon in sich trägt? Oder dass wir die Zeit, die wir miteinander haben, ausnutzen sollten?
Danke für diesen schönen, gedankenanregenden Text!
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Ausnutzen, erleben, leben sollten wir die Zeit miteinander sowieso, ja… Und wer weiss, vielleicht wäre das Leben noch viel trauriger, wenn es den Tod nicht in sich tragen würde… Vielen lieben Dank dir für deinen schönen, ebenso gedankenanregenden Kommentar…
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Zwei Gedanken: Ich habe mich immer über meine Mutter lustig gemacht, dass sie sich Todesanzeigen angeschaut hat und dann immer erstaunt war wie nahe die Geburtsjahre ihrem eigenen kommen. Mittlerweile schaue ich selbst in die Todesanzeigen.
Mit Hinblick auf die Leerstellen macht es auch Sinn, dass Großeltern Enkel fordern, denn es ist Platz an der Wand für neue Bilder.
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Todesanzeigen zählen wohl auch zu den Dingen, die mit den Jahren immer deutlicher zu erkennen sind und größer werden… Und ja, Platz ist da immer, Platz für Kinder und Kindeskinder. Und doch sind manche leeren Wände vielleicht gar nicht für Bilder vorgesehen… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und die zwei gehaltvollen Gedanken…
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Der ist DIr aber mal wieder ausgezeichnet gelungen, lieber Disputnik.
Für mich der einzige Gedanke, der es von Zeit zu Zeit erträglich macht: „Alles ist eins.“
Also „alles“ in der Urgewalt und Größe, die unsere Vorstellung generell übersteigt, aber uns gnädig mit einschließt.
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Hmmja, es gibt wohl viele unterschiedliche Gedanken, verschiedene Wege, um mit diesen Dingen umzugehen. Manchmal reicht es, sich der guten Momente zu erinnern, das Gewicht der Erinnerungen zu spüren. Dann wieder nützt alles nichts, die Leere ist zu laut. Und am Ende ist es vielleicht immer ein Akzeptierenmüssen… Vielen Dank dir fürs Lesen und für deine Worte…
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