Ich bin mehr als das, sagt sie, mehr als du siehst, und er nickt und lächelt und blickt noch ein wenig indifferenter und dümmlicher als sonst in die kleine Welt, die er als Umgebung zulässt. Ich bin mehr als das, wiederholt sie, mehr als du denkst, und es scheint, als würde er nun tatsächlich denken, würde nachdenken, was sich daran erkennen lässt, dass sein indifferenter und dümmlicher Blick vermehrt suchend wirkt.
Sie setzt sich auf das gemeinsame Bett, zieht sich langsam aus, legt sich hin. Sie gibt sich längst keine Mühe mehr, die salzigen Tropfen zu kaschieren, denn es macht keinen Unterschied, er bemerkt das Glitzern nicht, konnte es nie erkennen, zumindest machte er niemals den Eindruck, als würde er es können oder wollen. Nur kurz sieht sie ihn an, das Funkeln in seinen Augen, lüstern und selbstgefällig. Es ist so vorhersehbar, so berechenbar. Und dennoch ist sie überrascht, als sie in ihrem Kopf ein Knacken hört, ganz leise, ein Bersten unter der Oberfläche, gefolgt von einem beinahe stummen Nachhall in der Leere.
Nimm den Fotoapparat, bittet sie ihn. Mach ein Bild, oder zwei, oder drei, so viele du willst. Er tut es, denn er mag das. Dann lass dir Abzüge von den Fotos machen, kleine und große, so viele du willst. Er tut es, denn er mag das. Hänge einige davon an die Wand im Schlafzimmer, andere vielleicht ins Wohnzimmer, oder ins Bad, oder in den Flur, wohin du willst, so viele du willst. Er tut es, denn er mag das. Und dann, wenn du so durch die Wohnung gehst, erinnere dich an meine Worte. An die letzten Worte, die du von mir hören wirst. Er weiß nicht genau, was er nun tun soll, also nickt er und lächelt und blickt indifferent und dümmlich.
Ich bin mehr als das, sagt sie, und er nickt und zuckt mit den Schultern und blickt zuerst indifferent und dümmlich, dann vermehrt suchend, und schließlich fällt die Tür ins Schloss und die Wohnung wird still. Das Licht flackert ein wenig, der Staub hängt in der Luft, sinkt allmählich hinab. Er räuspert sich zaghaft, und das laute Geräusch lässt ihn zusammenzucken. Zögerlich geht er durch die Räume und blickt auf die Rahmen an den Wänden, auf die unzähligen Variationen des gleichen Körpers, ihres Körpers, aufgenommen aus allen Perspektiven; ihre Brüste und ihre Beine, ihr Hals und ihr Bauch, ihr Schoss und ihr Rücken, nahezu nichts bleibt ausgespart, nahezu nichts.
Später, es ist noch stiller als zuvor und klingt dennoch dröhnend, sitzt er auf dem gefrorenen Bett, in den Händen ein Bild, das einzige Bild, das nur ihr Gesicht zeigt, ihre Augen. Er betrachtet es, zuerst indifferent und dümmlich, dann vermehrt suchend. Für das Finden ist es zu spät, die Wohnung zu still, das Licht zu kalt. Ihre Worte versickern in einem beinahe stummen Nachhall in der Leere. Einen Moment lang scheint es, als würde in seinen Augen die Zeit erstarren. Dann blickt er wieder auf die Rahmen an den Wänden, schüttelt den Kopf, seufzt ein wenig und zerknüllt das Foto zwischen seinen Fingern.

In diesem Text scheint sich mir ausgesprochen viel Ungesagtes unter der Oberfläche zu verbergen, was zum Nachdenken und Nachfragen drängt!
Die Einseitigkeit der Perspektive, die uns an keinem einzigen Gedanken des Mannes teilhaben läßt, wirft die Frage auf, ob er tatsächlich keine (mitteilenswerten) Gedanken hegt, oder ob in diesem Vorbehalt sich nicht vielmehr das – unrichtige? – Vorurteil der Frau widerspiegelt, die ihn womöglich schlichtweg nicht zu verstehen vermag. Überhaupt mutet seine völlige Sprachlosigkeit in einem solch beredten Text wie dem vorliegenden überaus merkwürdig an! Denn wäre der Mann tatsächlich so „indifferent und dümmlich“, wie die Frau vermeint, was sollte sie dann dazu bewogen haben, überhaupt eine Beziehung mit ihm einzugehen? Doch wohl kaum weniger oberflächliche Beweggründe als von seiten der Frau dem Manne hier zugeschrieben werden!
Aber die letztliche Interpretation, freilich, obliegt am Ende jedem Leser selbst.
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Über das Ungesagte schreiben zu wollem, gerade auf kleinstem Raum, ist wohl immer schwierig… Das Indifferente und Dümmliche ist in diesem Fall wohl keine Charakterisierung, die sich über die ganze Beziehung zog, sondern vielmehr eine Momentaufnahme, ein Punkt, an dem sie ankam, als er schon längst nicht mehr in Sichtweite war. Aber dem Alter des Textes geschuldet ist auch dies nur noch eine Interpretation…
Vielen Dank dir für deine (im positiven Sinne) herausfordernden Worte!
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am Ende kam ihm ein sehr kleiner Teil einer Einsicht, eines Erkennens oder vielleicht auch nur eine zerstreute Resignation mit der Situation der neuen Leere um ihn herum. Der schöne Körper hatte ihn verlassen mitsamt allem,
was er nie beachtet hatte.
Nun hat er alles verloren, denn sie ist nicht nur die Oberfläche, sie ist so viel mehr und mehr, als er es je träumen kann.
Er scheint keinen Zugang zu inneren Qualitäten zu haben, die gerundete Oberfläche reicht ihm vollkommen, der wohlgestsaltete Körper, doch ihr war ER zu wenig! Sie ging…
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Wunderbar reflektiert und weitergedacht… Zerstreute Resignation, ja… Vielen lieben Dank dir fürs Lesen und für deine Worte, liebe Bruni…
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Deine geschriebenen Erotikbilder faszinieren, mal wieder…
und…
wie sähen denn die Fotos aus von „Ich bin mehr als das, mehr als du siehst…“, z.B. von ihrem Geist, der sicherlich sehr phantasievoll ist, oder ihrer (vielleicht gar unsterblichen) Seele…?!
Beides ist aber nicht fotografierbar, als Bild nicht an die Wand hängbar, ob klein oder groß im Abzug, höchstens vorstellbar…
oder hast du hierüber auch schon einmal einen ähnlich guten Text geschrieben, lieber Schreibfreund?
Liebe Morgengrüße gen Süden
vom Finbar
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Vielen Dank, lieber Finbar,
für deine Gedanken und Worte…
Naja, wenn man von einem Menschen nur das sieht, was man als Fotografie an eine Wand hängen kann, sieht man nicht viel von dieser Person…
Und nein, die restlichen Dinge sind nicht fotografierbar, doch die Bilder dazu gibt es dennoch, oder? Und sie lassen sich in den Räumen im eigenen Innern durchaus aufhängen. (Dazu brauchen sie nicht einmal einen Rahmen.) Irgendwie, vielleicht.
Schöne Grüsse zurück…
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so sehe ich das auch, lieber Disputnik, im inneren Ausstellungsraum… für andere vollkommen unsichtbar, dort hängen jede Menge davon… *lächel*
Gottseidank!
Liebe Morgengrüße
vom Finbar
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Ja, im inneren Ausstellungsraum, im Museum des Lebens… Vielen Dank, lieber Finbar; es ist schön, in (und aus) deinen Worten zu lesen…
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Sehr gut geschrieben. Intensiv. Ruhig. Einfach sehr gut.
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Vielen lieben Dank fürs Lesen und für deine Worte…
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Wow das ist unglaublich gut… Hat mir beim lesen richtig den Atem geraubt ! Toll!
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Oh, vielen lieben Dank! Jetzt aber bitte weiteratmen…
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Schade, dass man die Schätze, die man hat, so oft nicht sieht vor lauter Nähe…
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Ich glaub, man könnte sie sehr gut sehen, trotz oder gerade wegen der Nähe, solange es eine gute Nähe ist… Vielen Dank dir fürs Lesen und deine Worte.
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Wenn man hinschaut, ja. Und zuhört. Aber wenn man etwas für gegeben nimmt, achtet man vielleicht nicht mehr darauf. Es ist so viel einfacher anzunehmen, dass alles immer so bleibt, wie es war.
Vielen Dank fürs Schreiben 😉
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Hmmja, einfach nur anzunehmen und blind und taub darauf zu vertrauen, dass alles immer so bleibt, wie es war, ist selten ein gutes Rezept… Vielen Dank nochmals…
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Mal wieder meisterlich geschrieben und eine gute Mahnung. Ich hatte erst am Sonntag ein Gespräch über den allgegenwärtigen Sexismus und was er mit uns Menschen so anstellt…der Eintrag hier wäre ein guter Beitrag zum Thema gewesen.
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Ich frag mich manchmal, wo Sexismus beginnt, ganz unabhängig von den verschiedenen Definitionen, die es dafür gibt. (Die Reduktion auf das Körperliche ist dabei vielleicht gar nicht in erster Linie sexistisch, sondern eine Objektivierung und vor allem doof.) Und ja, er ist allgegenwärtig, der Sexismus, man begegnet ihm überall. Und auch wenn man die sprichwörtlichen Hände diesbezüglich wohl selbst nicht immer in reiner Unschuld waschen kann, sollte man diese Hände nicht einfach nur in den Schoss legen. Vielen Dank dir, lieber Ben, für deine Gedanken und Worte…
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Das problematische am Sexismus ist doch, dass er so selbstverständlich ist, dass man ihn eben auch selbst verbreitet ohne es zu wollen. Spricht mich etwa ein Plakat mit einer schönen, halbnackten Frau nicht an? Reagiere ich nicht darauf? Natürlich spreche ich darauf an und bin deswegen noch kein Sexist. Du siehst, auch ich stelle mir die Frage, wo er anfängt…und eine Antwort, die kenne ich nicht, aber er macht uns so viel kaputt. Unser eigenes Wohlbefinden und den natürlichen Umgang mit Nacktheit ebenso.
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Sehr schön gesagt/geschrieben, vielen Dank… Ja, er macht viel kaputt, nicht zuletzt auch im Umgang miteinander… Die Antworten fehlen häufig, wie bei so vielen Themen, doch vielleicht ist das Infragestellen gewisser Dinge manchmal bereits ein Anfang…
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Ja, absolut und deswegen mag ich deine Texte ja auch so sehr, weil sie einen immer wieder aufmerksam machen. Wachbleiben ist gar nicht so einfach, wenn man in jeder Sekunde eine Ablenkung findet.
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Vielen Dank für das wunderbare Kompliment! Und fürs Wachbleiben sowieso…
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